Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19
zm 107, Nr. 19, 1.10.2017, (2195) Medicaid-Patienten sind in der Regel alles andere als „Wunschpatienten“. Sie verfügen über wenig Einkommen, darunter viele Kin- der, alte Menschen und solche mit Behinde- rungen – Gruppen, die weniger mobil und flexibel sind als andere. Die Verbindung zwischen Krankheit und Armut hat eine lange Geschichte – etwa der Pathologe Rudolf Virchow hat im 19. Jahr- hundert eindringlich darauf hingewiesen. Otto aber hat ihre Zahlen – erschreckende Zahlen – im heutigen Amerika gesammelt. Laut einer Datenerhebung der HRSA (Health Resources & Services Administration) von 2016 haben 49 Millionen US-Amerikaner keinen Zugang zu einer zahnmedizinischen Grundversorgung. Das betrifft ein Drittel aller weißen Kinder, bei schwarzen Kindern – wie Deamonte Driver – oder Latino-Kin- dern ist es fast die Hälfte. Das Ausmaß dieser Gesundheitskrise beschrieb David Satcher, ehemaliger oberster Sanitätsinspekteur der Vereinigten Staaten, als „stille Epidemie“. Für Millionen von Kindern und Erwachsenen sind Zahnschmerzen ein Dauerzustand. Viele von ihnen vermeiden es zu lächeln, weil sie sich für ihre Zähne schämen. Ein vollständiges Lächeln aber wird auf dem Arbeitsmarkt, und nicht nur in Service- berufen, erwartet. So wird fehlende Zahn- gesundheit nicht nur zum sozialen Stigma, sie kann auch die ökonomische Sicherheit bedrohen. Wer stellt einen Kellner, eine Empfangskraft, eine Verkäuferin mit braunen Stummeln im Mund ein? Wer stellt einen Kellner mit Stummeln im Mund ein? Mehr als eine Million Menschen suchen jährlich mit akuten Zahnschmerzen eine Notaufnahme auf, erhalten dort Schmerz- mittel und Antibiotika. Die meisten von ihnen haben keinen Zahnarzt, der sie versorgen könnte. Und in der Notaufnahme arbeiten selten Zahnärzte. Otto lässt in ihrem Buch Menschen zu Wort kommen, die sich selbst Zähne gezogen haben, behelfsmäßig nar- kotisiert mit Alkohol. Und solche, die sich in ihr vermeintliches Schicksal fügen und gegen die Schmerzen nur noch beten. Otto begleitete auch einen Hilfseinsatz der 20. September 2014: In der Ooltewah High School (Ooltawah/Tennessee) wurde für zwei Tage behelfsmäßig eine Klinik eingerichtet, um unversicherten oder unterversicherten Patienten eine kostenlose medizinische und zahnmedizinische Versorgung anzubieten. Foto: picture alliance Welche heftigen Reaktionen Ottos Werk „Teeth“ in den USA hervorgerufen hat: „Etwa 114 Millionen Menschen sind in den USA ohne zahnmedizinische Versor- gung, etwa die Hälfte der Kinder haben 2012 über Medicaid keinen einzigen zahnärztlichen Termin erhalten. Wir könnten ein System schaffen, dass Be- handlungen universell, also statt auf Grundlage finanzieller Mittel auf Basis gesundheitlicher Bedürfnisse erfolgen. Aber das tun wir nicht. Otto zeichnet die Geschichte der modernen Zahnmedizin von den chirurgischen Experimenten des 18. Jahrhunderts bis zur Gründung der ersten US-amerikanischen zahnmedizi- nischen Schule im Jahr 1840 nach – und erklärt, wie die USA stattdessen ein ‘sorg- fältig bewachtes, weitgehend privates System‘ entwickelten, das ‘enorm schwer für diejenigen ohne Mobilität oder Geld zu erreichen ist‘. Der Zustand unserer Zähne, argumentiert sie, offenbart und verstärkt die großen Ungleichheiten unserer Gesellschaft.“ Adam Gaffney, The Devastating Effects of Dental Inequality in America (Die verhee- rende Wirkung dentaler Ungleichheit in Amerika), 25. Mai 2017 in The Republic „Dies ist die Prämisse, wenn auch von Otto nicht so unverblümt formuliert: Die Trennlinie zwischen den Schichten könnte am stärksten sichtbar sein zwischen denen, die Tausende von Dollar für ein schimmerndes Lächeln ausgeben, und denen, die leiden oder sogar sterben an vermeidbarer Karies.“ Sarah Jaffe, The Tooth Divide: Beauty, Class and the Story of Dentistry (Die Zahnspaltung: Schönheit, Klasse und die Geschichte der Zahnheilkunde), 23. März in The New York Times „Im Jahr 2007 geriet Marylands Medicaid- Dental-Care-Programm unter Beschuss, nachdem in Prinz George‘s County ein Junge an einer unbehandelten Zahn- infektion starb. Fünf Jahre später wird dasselbe System, das den Zwölfjährigen Deamonte Driver fallen ließ, als eines der besten der Nation angepriesen.“ Katherine Driessen, 5 years after boy dies from toothache, Maryland Medicaid dental care is on mend (5 Jahre nachdem ein Junge an Zahnschmerzen stirbt, ist Marylands Medicaid-Zahnprogramm auf dem Weg der Besserung), 15. Februar 2012 in The Washington Post Ein Buch, das Wellen schlägt TEETH 41
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