Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 107, Nr. 20, 16.10.2017, (2328) Als Günter Grass 1999 die Nachricht er- reichte, dass er den Literaturnobelpreis er- hält, ließ er sich nicht von einem lange ver- einbarten Zahnarzttermin abbringen. Er soll gesagt haben: „Das hilft vielleicht auch bei der Beruhigung der Nerven.“ Grass scheint also keine negativen Erinne- rungen an Zahnarztbesuche zu haben, was für seinen Zahnarzt, Dr. Anatol Gotfryd, spricht (siehe auch „Der Zahnarzt von Günter Grass“, zm 17/2017, S. 82–83). Viel- leicht waren die Grass‘schen Zähne selbst der Auslöser seiner Probleme. Der Schrift- steller litt an einer Progenie, die Grass schließlich auch veranlasste, fortwährend Oberlippenbart zu tragen. Die Progenie führte schließlich auch zum frühen Verlust der eigenen Zähne und machte häufige Zahnarztbesuche notwendig. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Thematik ihn in seinem Schaffen inspirierte und in sein Werk Eingang fand. Fiktive Dialoge mit dem Zahnarzt In seinem dritten Roman „örtlich betäubt“ von 1969 lässt er einen vierzigjährigen Stu- dienrat aus West-Berlin, Eberhard Starusch, über dessen Niederlagen im Leben resü- mieren – und künftige fürchten. In fiktiven Dialogen mit einem Zahnarzt versucht er sich zu rechtfertigen. Der Protagonist des Romans stammt wie Grass selbst aus Danzig und leidet ebenfalls an Progenie [Vgl. Grass, Günter: örtlich betäubt, Neuwied/Berlin, 1969, S.38]. So lässt der Schriftsteller den Studienrat sagen: „Ich verlor meine Milch- zähne im Hafenvorort Neufahrwasser. Die Leute dort, Stauer und Schichauarbeiter [Anm. des Autors: der Schichau-Werft Dan- zig], hielten es mit dem Kautabak; so sahen auch ihre Zähne aus“ [Grass, 1969]. Nicht zufällig wird die Zahnarztpraxis in der fol- genden Szene zur Bühne der politischen Auseinandersetzung, spielt dieser Roman doch in der politisch aufgewühlten Zeit Ende der 1960er-Jahre: „Doch der verlangt, daß sich der Patient von seinen Aufrufen distanziert: ‚Allenfalls will ich dulden, daß Chlorophyll-Zahnpasten, die fälschlich vor- geben, ein wirksames Kariesschutzmittel zu sein, radikal abgeschafft werden. Der Studienrat zögert, schluckt, will nicht wider- rufen. (Meine 12a schaute mir feixend zu.) Wahllos zitiert er Marxengels und sogar Seneca, der, was Verdammung des Über- flusses betreffe, einer Meinung sei mit Marcuse … (Ich scheute mich nicht, dem späten Nietzsche das Wort zu geben: ‚Schließlich wird mit der Umwertung aller …‘). Aber der Zahnarzt besteht auf Gewalt- verzicht und droht, bei ausbleibendem Widerruf, die Anästhesie des Unterkiefers zu unterlassen. Fürsorgeentzug. Das Zeigen der Folterwerkzeuge. Die dentale Bedrohung: ‚Das heißt, mein Lieber, wenn Sie weiterhin Günter Grass und die Zähne „Vor Jahren schon hatte sich mein Oberkiefer entvölkert“ Am 16. Oktober wäre Günter Grass 90 geworden. Der Literaturnobelpreisträger hatte ein spezielles Verhältnis zu seinen Zähnen, das er auch literarisch ver- arbeitet hat. Unser Autor ist den Bissspuren und dentalen Abdrücken durch das Werk von Grass gefolgt. Mit dieser Zeichnung bedankte sich Günter Grass bei seinem Zahnarzt Dr. Anatol Gotfryd. Quelle: VBB_Gotfryd_VG Bild-Kunst, Bonn 2017 38 Gesellschaft

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