Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 107, Nr. 20, 16.10.2017, (2330) der Gewalt das Wort reden wollen, werde ich Ihnen die Zinnkappen ohne örtliche Betäubung abneh- men, und auch die Brücken, alle beide, werde ich …‘ Da kapituliert der an sich liberale und nur uneigentlich radikale Studienrat (Meine 12a zischte mich nieder) und bittet seinen Zahnarzt, den Hinweis auf die aufräumenden Bull- dozer nicht wörtlich zu nehmen, vielmehr die genannten, an sich nützlichen (ich sagte ‚lebens- bejahenden‘) Fahrzeuge als Gleich- nis zu werten: ‚Selbstverständlich will ich keinen Bildersturm und alleszerstörenden Anarchismus …‘ - ‚Sie widerrufen also?‘ - ‚Ich wider- rufe.‘“ [Grass, 1969, S.137]. In der Literaturkritik des Spiegel zum Roman war dann zu lesen: „Gewiß wäre es falsch, den vom ‚radikalen Aufrührer‘ zum ‚gemäßigten Studienrat‘ gereiften- reduzierten Starusch seinem Autor gleichzusetzen. Schon der Verfasser der ‚Blechtrommel‘ ist kein ‚literarischer Jakobiner‘ gewesen, wie Enzensberger gleich damals erkannt hat. Graßens Ansichten, seine Ab- lehnung politischer Radikalität und ‚über- menschlicher‘ Ideologie sind dieselben ge- blieben“ [Der Spiegel 33/1969, S.102]. Als dramatisches Konzentrat eines Teils von „örtlich betäubt“ entstand 1968 das Theater- stück „Davor“, das seine Uraufführung im Februar 1969 am Schiller-Theater Berlin unter der Regie von Hans Lietzau hatte. Höllengelächter mit dem Letztzahn Grass griff in seinem Werk immer wieder nach den Zähnen: Etwa in einem Hörspiel aus dem Jahr 1958, das den Titel „Zweiunddreißig Zähne“ trug. „Anhand der absurden Handlung – der Gegenspieler verfolgt den Helden fünf Akte lang und versucht ihn zum gemeinsamen Benutzen einer Zahnbürste zu überreden – wird die Verstrickung des Menschen in Zwänge und eigene Schwächen verdeut- licht, sowie seine Unfähigkeit, diese zu überwinden und wirklich frei zu sein.“ Das Hörspiel wurde 1959 im Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt. „Die heiteren Zähne und das aufgeräumte Herz“ war der Titel einer Festrede, die Grass 1998 zur Vernissage „Wörtliche Bilder“ von Prof. Dr. Volker Neuhaus in Hürth bei Köln hielt. ´ Ach, wie unschuldig perlten sie. Und als ihre Zeit vorbei war, sie alle ausgewandert waren, glaubte ich voreilig – kaum wuchsen die zweiten nach –, erwachsen zu sein. Es sind, wie nach Vorschrift, zweiunddreißig gewesen. Eine einprägsame Zahl, wenngleich mein mit der Pubertät zutage tretender Unter- biss – fachärztlich Progenie genannt – die vorzeitige Minderung des Bestands ankündigte. Günter Grass in dem Gedicht „Abschied von restlichen Zähnen“ In seinem letzten Buch, erst nach seinem Tod 2015 veröffentlicht, ist dem Dichter die Geschichte seines Zahnstatus einen ganzen Abschnitt wert. In „Vonne Endlichkait“ be- schreibt Grass den „Abschied von restlichen Zähnen“: „Vor Jahren schon hatte sich mein Oberkiefer entvölkert. Und im Unterkiefer gab nur kümmerlicher Bestand dem künstlichen Gebiß Halt […] Nie verriet Klappern meinen dentalen Zustand […] Und nun ist es nur noch ein einziger, mithin lediger Zahn, der mir Standfestigkeit be- weisen möchte […] Einzahn, Letzt- zahn, nur tauglich, mit ihm meine jüngsten Enkelkinder zu schrecken, indem ich offenen Mundes Höllen- gelächter mime“ [Grass, Günter: Vonne Endlichkait, Göttingen, 2015, S. 30]. Die Zähne thematisiert Grass auch in seiner Lyrik. So dichtet er im Ge- dicht „Frost und Gebiss“ humor- voll: „Ein Schwein, nun auferstan- den in Sülze, zittert klappert, weil noch zwei Zähne einander finden, tief im Gelee.“ Und „In eigener Sache“ heißt es: „Das alles ist üble Nach- rede, und Wahrheit schreibt so: Manchmal quält mich Zahnschmerz, dann geht es mir wieder besser“ [Grass, Günter: Werkausgabe, Bd. 1, Gedichte und Kurzprosa, Göttingen, 1997, S. 102, 106]. In seinem Gedicht „Wegzehrung“ wird noch einmal der Wunsch nach guten Zähnen deutlich. Für einen Menschen, der an Progenie leidet, ist das Beißen von Nüssen nicht so einfach – und daher ein schöner, jenseitiger Wunsch, es noch einmal richtig zu können: „Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er“ [Freipass, Schriften der Günter und Ute Grass Stiftung, Bd.1, Hg. Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa, 1. Auf- lage, Berlin, 2015, S. 134]. Kay Lutze Historiker und Fachjournalist Foto: picture alliance-TT News Agency Günter Grass bei seiner Rede nach der Verleihung des Literatur- nobelpreises in Stockholm 1999 40 Gesellschaft

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