Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 107, Nr. 20, 16.10.2017, (2350) tische Volksgesundheitspflege aus völkischer und artbewusster Gesinnung heraus“ in den Mittelpunkt seiner Standespolitik stellt. In diesem Rahmen wies der RV seine Mit- glieder ganz besonders und ausdrücklich darauf hin, dass eine Anzeigepflicht im Zusammenhang mit dem am 14. Juli 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erb- kranken Nachwuchses“ auch für jeden Zahnarzt gelte und dass jegliche Hetze gegen das sogenannte „Erbgesundheits- gesetz“ als „Sabotage am Rasseschutz“ ge- wertet und als Volksverrat bestraft werde. Auch das 1927 innerhalb des RV gegründete „Reichsinstitut für die Geschichte der Zahn- heilkunde“ wurde in den Dienst dieses Wan- dels gestellt. Weiterhin wurde die enge Zusammenarbeit der Ärzte und Zahnärzte in allen Fragen der Volksgesundheit im nationalsozialistischen Sinn beschlossen und ein gemeinsames großes Endziel formuliert, da die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde nicht von der allgemeinen Heilkunde zu trennen und die zahnärztliche Ausbildung zukünftig danach auszurichten sei. Ein wei- teres Ziel war die Zusammenführung der Zahnärzte und Dentisten zu einem einheit- lichen Berufsstand, die sich vor allem nach „nationalsozialistischen Prinzipien“ vollziehen sollte, was aber nicht gelang. Für die Zahn- ärzte kam es dadurch trotz größter Anstren- gungen des Reichszahnärzteführers nicht zur Errichtung einer „Reichszahnärztekammer“ an die Stelle der „Deutschen Zahnärzte- schaft e. V.“ und nicht zur Verabschiedung einer eigenen „Reichszahnärzteordnung“, in der die Änderung der Berufsbezeichnung für alle deutschen Zahnärzte „der alten wie der kommenden Generation“ in „Arzt für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“ festge- schrieben werden sollte. Auch blieben die Zahnärzte deshalb im Gegensatz zu den Ärzten, die durch die „Reichsärzteordnung“ vom 13. Dezember 1935 aus der Gewerbe- ordnung herausgelöst wurden, bis 1952 der Gewerbeordnung unterstellt. Jedoch wurde 1939 eine „Standes- und Verbandsordnung für die Mitglieder der Deutschen Zahnärzte- schaft e. V.“ und der KZVD erlassen, die sich an der „Reichsärzteordnung“ von 1935 orientierte und die eine Ergänzung der vom RV 1933 erlassenen Berufsordnung war. Diese Standes- und Verbandsordnung wurde am 5. September 1942 noch einmal ergänzt. Mit dieser Ergänzung wurde der „Deutschen Zahnärzteschaft e. V.“ das Recht gegeben, allen Zahnärzten beziehungsweise Dentisten „zur Sicherstellung der zahnheil- kundlichen Versorgung der Bevölkerung bindende Auflagen“ zu erteilen und diese „durch Festsetzung von Erzwingungsstrafe“ durchzusetzen, ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation. Die Kontinuität nach 1945 Alle standespolitischen und wissenschaft- lichen Verbände der Zahnärzte zeigen nach 1945 genau wie bei den Ärzten personelle, strukturelle und auch ideologische Kontinui- täten, womit die Verharmlosung und die Umdeutung der NS-Zeit und das damit ver- bundene Fehlen eines Unrechtsbewusstseins sowie die großen Lücken bei den Original- quellen zu erklären wären. Die meisten zahnärztlichen und ärztlichen Funktionäre und Funktionsträger des NS-Staates waren nach 1945 aktiv an der Reorganisation und am Aufbau der zahnärztlichen und ärztlichen Standesorganisationen und Verbände mit beteiligt. Dr. med. dent. Gisela Tascher www.dres-tascher.de Die Autorin ist niedergelassene Zahnärztin in Heusweiler und Mitglied des Vorstands des Arbeitskreises „Geschichte der Zahnheilkunde“ der DGZMK, einem Kooperationspartner des Aufarbeitungsteams „Zahnheilkunde und Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus“ am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen unter der Leitung von Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß. Grundlage für diesen Beitrag ist der Vortrag, den die Autorin im Rahmen der Tagung „Zahnheilkunde und Zahnärzte- schaft im Nationalsozialismus“ im Juni 2017 in Aachen gehalten hat. Warum ist die Aufarbeitung der natio- nalsozialistischen Medizinverbrechen im Kontext zu unserem heutigen ärzt- lichen Handeln so wichtig, besonders in Zeiten von ethischen Debatten – zum Beispiel über Biomedizin, Gen- technik, Embryonenforschung, Prä- implantationsdiagnostik und Sterbe- hilfe? Gerade durch die Auseinander- setzung mit der Rolle der Heilberufe während der NS-Diktatur kann das Bewusstsein ethischer Grenzen im medizinischen Handeln geschärft und aufgezeigt werden, welche Folgen eine ideologisch motivierte und staatlich verordnete Umdeutung von medizin- ethischen Standards für die Patienten und auch für die Heilberufe hat. Vor diesem Hintergrund sollten wir dafür Sorge tragen, dass das individuelle ver- trauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis sowie die ärztliche Berufsausübung durch Dritte nicht ideologisch beein- flusst und instrumentalisiert werden. Warum Aufarbeitung? Für die Volksgesundheit und „die Aufwertung des deutschen Menschen“ in der zm 35/1935 Foto: zm-Archiv Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. 60 Gesellschaft

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