Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm 107, Nr. 21, 1.11.2017, (2438) Zahnärzte als Heilpraktiker – Im Mittelpunkt steht der Patient als Einzelfall! Zum Beitrag von Dr. Hans-Werner Bertelsen „Alles gehört auf denselben Prüfstand“, zm 19/2017, S. 16. Seit fast 40 Jahren bin ich Leser der zm und mehr als 20 Jahre liegt mein letzter Leserbrief zu- rück. So will ich hier ausnahms- weise mal etwas weiter ausholen: Mit der Schul- und der Alternativ- medizin treffen zwei Glaubens- gemeinschaften aufeinander, und von solchen wissen wir, dass deren Verständigung meist daran scheitert, dass jede verkennt, dass sie ihr Außenverhältnis zur jeweils anderen nicht anhand von Dogmen bestimmen kann, die nur in ihrem Inneren gelten. Unfriede ist die Folge. Es gehört eben gerade nicht alles auf den- selben Prüfstand nur einer von vielen möglichen Perspektiven auf die Wirklichkeit. Wie werden die „Standards“ im Sinne des Kollegen Dr. Bertelsen denn gewonnen? Erinnern wir uns mal an unsere Studentenzeit und einen Physiologie-Praktikums - tag zurück: Zunächst wird einem Frosch der Kopf abgeschnitten und das Rückenmark ausgebohrt (schon dabei fällt hin und wieder mal ein Student in Ohnmacht …), dann werden die Froschschenkel nebst Ischiasnerv herauspräpa- riert, um daran eine variable elektrische Spannung anlegen und die entsprechenden Zuckungs- ausschläge studieren zu können. Wir glauben ganz fest daran, dass die Funktion dieser künstlichen Versuchsanordnung mit der des lebendigen Frosches gleichzu- setzen sei. Die gewonnenen Messpunkte werden in ein zwei- dimensionales Koordinatensystem eingetragen. Und nun kommt der entschei- dende und kritikwürdige Punkt, die induktive Methode der galilei- newtonschen Physik: Die endliche Anzahl von Messpunkten wird im Koordinatensystem durch eine unendlich viele Punkte enthal- tende Kurve verbunden, deren Stetigkeit unbewiesen voraus- gesetzt wird, getreu demmecha- nistisch-deterministischen Welt- bild des 17. Jahrhunderts „Die Natur macht keine Sprünge“. Falls es (naturgemäß) nicht so genau hinkommt, wird die bloß postulierte Stetigkeit mittels statistischer Methoden „herbeigebügelt“. Das in hohem Maße künstliche Ergebnis einer solchen „Studie“ nennt man dann „evident“. Dies nicht nur für einen Aus- schnitt, sondern für die ganze Wahrheit zu halten, ist eine Glau- bensfrage der im mechanistisch- deterministischen Weltbild des 17. Jahrhunderts wurzelnden Schulmedizin. Dass uns die Quantentheorie seit über 100 Jahren lehrt, dass die Natur eben doch springt, wird dabei ebenso verdrängt wie die dem Quantensprung entsprechende aristotelische Physik mit ihrem umfassenden Bewegungsbegriff im Sinne eines singulär Diskret- werdens aus einem Möglichkeits- kontinuum heraus. Das Verstehen der Einzigartigkeit des Einzelfalls geht in der galilei-newtonschen Physik und mithin auch in der Schulmedizin verloren. Die Kepler‘schen Gesetze bei- spielsweise beschreiben die Bahn- bewegung des Planeten Jupiter im Sinne des auf die reine Orts- veränderung reduzierten aristote- lischen Bewegungsbegriffs, sagen also nichts darüber aus, wie der Jupiter mal in seine Bahn hinein- gekommen ist oder wie er aus dieser mal wieder herauskommen wird und warum es gerade diesen Jupiter in seiner einzigartigen Individualität gibt. Nach der Logik des Münsteraner Kreises wäre der Jupiter als nicht existent zu betrachten, weil der „Standard“ der Kepler‘schen Gesetze abschließend wäre und diese über die Existenz des Jupiter nichts aussagen. Wer be- haupten würde, diesen Planeten mit bloßem Auge am Himmel sehen zu können, wäre dann des „Irrsinns“ zu bezichtigen … Jede wissenschaftliche Theorie ist hilfreich und in sich stimmig, aber keine wissenschaftliche Theorie beschreibt die Welt um- fassend und abschließend, denn würde man das kosmische Ganze insgesamt zum Objekt machen, bliebe kein davon trennbares erkennendes Subjekt mehr übrig [vgl. statt vieler Platons Dialog mit Parmenides; C. F. v. Weiz- säcker, Die Einheit der Natur (1971), IV.5]. Auch in der Medizin geht es darum, dem Einzelfall gerecht zu werden. Evidente Standards sind dabei zwar zweifelsohne sehr hilfreich, aber nicht immer der allein richtige Handlungs- maßstab. Wie wir gesehen ha- ben, schließt die induktive Methode der klassischen Physik von einer diskret- endlichen Anzahl von Ver- suchsergebnissen auf alle übrigen gleich gelagerten Fälle. Dieser Induktions- schluss ist für sich genom- men problematisch. Das hat bereits Goethe so erkannt. Was also für die Fälle x, y und z richtig war, kann für die innerhalb der Studie um der postulierten Stetigkeit willen „hinzugemogelten“ oder die originär neuen Fälle a, b und c grundfalsch sein. Die Verant- wortung gegenüber dem indivi- duellen Patienten aber gebietet hier Wachsamkeit und nicht etwa ausschließliche Behandlung nach Evidenzschema F. Nicht anders ist das mit der Rechtsanwendung vor Gericht. Auch hier geht es immer wieder von neuem um eine dem Einzel- fall gerecht werdende Rechts- anwendung. Eine Rechtsnorm ist niemals statisch, sondern ak- tualisiert ihren Bedeutungsgehalt in jedem einzigartig neuen An- wendungsfall neu [vgl. etwa Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts (2009), VII.]. Herr Kollege 12 Leserforum

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=