Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm 107, Nr. 21, 1.11.2017, (2439) Dr. Bertelsen meint, juristisch zähle im Fall eines Streits nur die Aussage eines Gutachters und durch fehlende (medizinische) Standards entstünde ein rechts- freier Raum. Dabei verkennt er die Funktion des Gerichts. Dieses ist nämlich von Verfassungs wegen an Gesetz und Recht und nicht an (medizinische) Standards gebunden und entscheidet den Streitfall allein rechtsnormbezo- gen, während der hinzugezogene Sachverständige nur die Funktion eines Beweismittels im Rahmen der Ermittlung des unter die Rechtsnorm (ergebnisoffen!) zu subsumierenden Sachverhalts hat. Schließlich unterliegen die Aus- führungen eines Sachverständi- gen der freien Beweiswürdigung durch das Gericht (§ 286 ZPO). Keineswegs also gibt ein Gut- achter (mit seinen nur allzu oft lehrbuchartigen, an der konkreten Beweisfrage des Gerichts vorbei- gehenden Ausführungen) eine richterliche Entscheidung vor. Sodann spricht Herr Kollege Dr. Bertelsen von „ethischen Grund- prinzipien“. Was er damit wohl meint? Etwa ethische „Standards“, die das moralische Einzelfallurteil auf der Stecke lassen? In der nor- mativen Ethik haben wir eine Vielzahl von Ethiktheorien, die wir beispielsweise in Pflichten/Güter/ Tugend-Ethiken oder in deonto- logische/teleologische Ethiken einzuteilen pflegen. Sie dienen alle der Begründung [vgl. Konrad Ott, Moralbegründungen (2005), Kap. 3] moralischer Einzelfall- urteile über individuell-konkrete Handlungssituationen und be- dürfen – ebenso wie medizinische Standards oder Rechtsnormen – immer wieder von neuem der Aktualisierung am konkreten Anwendungsfall. Wissenschaftstheoretisch lässt sich anhand der Vielzahl von Ethik- theorien im übrigen gut stu- dieren, dass es immer eine Viel- zahl von Perspektiven auf ein und dieselbe Wirklichkeit gibt, die abstrakt nicht etwa paarweise in kontradiktatorischem Gegensatz zueinander stehen und sich daher nicht wechselseitig im Sinne der nur einen richtigen Theorie aus- schließen. Vielmehr ist in jedem originär neuen einzelnen Anwen- dungsfall zu prüfen, ob er dem intendierten Anwendungsbereich dieser oder jener Theorie adä- quat zugeordnet werden kann [vgl. Konrad Ott, a.a.O.]. Man kann sich also niemals ein für alle Mal, sondern nur immer wieder von neuem und auf den konkre- ten Fall bezogen beispielsweise zwischen Kants kategorischem Imperativ und dem Utilitarismus oder welcher Ethiktheorie auch immer entscheiden. Abschließend ist es vor diesen Hintergründen zu bedauern, dass der hochrangig besetzte Münsteraner Kreis offenbar den hier aufgebrochenen Gegensatz zwischen Schul- und Alternativ- medizin nicht von einer höheren Warte aus als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu erkennen vermag und mit dem Gebrauch der Begrifflichkeit des „Irrsinns“ vorschnell die Ebene der Sach- lichkeit verlassen hat. Hans-Kraft Rodenhausen, Kiel Die zm-Redaktion ist frei in der Annahme von Leserbriefen und behält sich sinnwahrende Kürzungen vor. Außerdem behal- ten wir uns vor, Leserbriefe auch in der digitalen Ausgabe der zm und bei www.zm-online.de zu veröffentlichen. Bitte geben Sie immer Ihren vollen Namen und Ihre Adresse an und senden Sie Ihren Leserbrief an: leserbriefe@zm-online.de oder Zahnärztliche Mitteilungen Redaktion Behrenstraße 42 10117 Berlin.

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