Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm 107, Nr. 21, 1.11.2017, (2456) Ungeachtet dessen gilt, dass – aus anato- mischer Sicht – alle Gelenke einen maxima- len Bewegungsumfang (range of motion) haben, der allerdings nur bei Bewegungen ganz groß ist. Die dafür gültigen maximalen Toleranzen für eine statische Arbeitshaltung verzeichnet ISO-Standard 11226. Diese sind bewusst genau begrenzt gewählt worden, da die statische Muskelspannung kombi- niert mit einem vergrößerten Bewegungs- umfang bei statischen Aktionen im Sitzen mit der Zunahme von biochemischen Gewebereaktionen durch Säuerung schnell zunimmt. Dies verdeutlicht, dass die Beibehaltung einer neutralen Beckenposition, die mit der physiologisch idealen Haltung beim auf- rechten Stehen vergleichbar ist, auch beim Sitzen gefordert werden muss (Abbildung 7 rechts). Schließlich sollte die Summe aller hinteren und vorderen Muskelkräfte der Sagittalebene in der sitzenden Arbeits- haltung gleich Null sein [ISO 11226, 2000; Yamalik, 2017; Engels/Hokwerda, 2006; Engels/Hokwerda, 2009]. Wegen des spezifischen Designs des Sattel- stuhls tendiert das Becken allerdings dazu, sich nach vorne zu neigen, wodurch eine konkave Form der Lendenwirbelsäule erzeugt wird (Abbildung 7 Mittte), was ihre Balance stört und in erheblichem Maß die Kräfte beeinflusst, die auf die Wirbelsäule wirken. Eine konstante Neigung nach vorne, die mit einer Beugung des Rumpfes nach vorne ge- koppelt ist, führt oft zu einer Überlastung des gefäßreichen Perineums (Damm) und der Schamregion, Letztere besteht – neben der bedeckenden Haut, die reichlich sensi- bel innerviert ist – hauptsächlich aus Mus- keln des Beckenbodens. Hier ist ein bekanntes Phänomen aus dem Radsport zu bedenken: Nach tagelangem, intensivem Radeln wird eine (meist tempo- räre) Impotenz oder gestörte Empfindlich- keit als normal angesehen [Partin et al., 2014; Potter, 2015; Michiels/Van der AA, 2015; Schrader, 2008; Munarriz, 2005]. Dies gilt unverändert bei einer Zweiteilung des Sattelsitzes, auch wenn die Genitalien dadurch mehr Freiraum haben. Alle Weich- teile liegen im Stehen unterhalb der Becken- knochen und werden im Sitzen immer direkt oder indirekt belastet. Es ist möglich, die auf diese Region ein- wirkenden Kräfte dadurch zu vermindern, dass man sich mit der Brustwirbelsäule kompensatorisch zurücklehnt: Das Becken kippt nach hinten, und die Wirbelsäule nimmt eine (konvexe) C-Form an (Abbil- dung 7 links). Diese Art des Zurücklehnens wird den Zahn- arzt folglich aber dazu zwingen, den Kopf um mehr als 25 Grad nach vorne zu beugen, um in den Mund des Patienten hineinsehen Abbildung 7: Beckenhaltungen mit dem daraus resultierenden Verlauf der Wirbelsäule Quelle: PA Engels Abbildung 8: Bei dieser Idealsituation reprä- sentiert der rote Bereich den Sitzknochendruck, der gelbe den akzeptablen muskulären Druck und der blau-graue Bereich die Weichteilkon- takte. Also repräsentieren die roten Flecken die Sitzknochenhöcker. Zu beachten ist der freie Weichteilraum zwischen den Beinen. Abbildung 9a: Ein Arbeitsstuhl mit leicht nach vorne gekipptem Sitz – zu viel Druck auf alle Bereiche Abbildung 9b: Ein modifizierter Sattelstuhl mit sehr weicher Polsterung – ausgedehnte Sitzknochendruckzonen 30 Zahnärztliche Ergonomie

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