Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21
zm 107, Nr. 21, 1.11.2017, (2460) Die Zunahme der Bewegungsmöglichkeiten vom Lenden- bis zum Halsbereich bedeutet, dass Lageveränderungen der Lendenwirbel- säule weniger in der Brustwirbelsäule, aber stärker im Halsbereich ausgeglichen wer- den. Dies führt dazu, dass der Kopf sich nach hinten bewegt, um einen horizontalen Blick beizubehalten. Diese Hyperlordose hat einen bedeutenden Einfluss auf die Kraft, die notwendig ist, um den Kopf nach vorne zu beugen, um in den Patientenmund sehen zu können [Engels, 2010; Engels, 2011; Engels, 2015]. Das Kopfbeugen nach vorn wirkt den die Lordose ausgleichenden Kräften in der Halswirbelsäule allerdings entgegen. Außerdem wird der Kopf durch Beugen des Oberkörpers nach vorn zusam- men mit der zunehmenden Vorwärts- neigung des Halses in eine stabile statische Haltung versetzt. Dadurch werden die Ursprünge und Ansatzpunkte der kleinen, inneren Halsmuskulatur mit der Folge um- gekehrt, dass sie dann als Co-Kontraktoren fungieren, um den Hals in einer stabilen Lage zu halten [Gray/Vandyke, 2011; Engels/ Hokwerda, 2009]. Diese Fixierung hat eine ernsthafte Einschränkung der Beweglichkeit des Kopfes (Streckung und Drehung) zur Folge. Wenn die (natürliche) lumbale Hyperlordose wegen nachlassender Kondition, etwa im fortgeschrittenen Alter, bei Stress und bei Ermüdung, nicht mehr erhalten werden kann, nimmt die Wirbelsäule eine C-Form ein, durch die Druck auf den Bauch und die darin befindlichen Organe erzeugt wird. Die damit mögliche einhergehende Verlagerung des Zwerchfells wäre dann eventuell Ursache für eine schleichende Einschränkung der Atmungsfähigkeit. Das daraus resultierende verringerte Lungenvolumen ist der Grund für den schlechten Grad der Sauerstoffver- sorgung des Körpers [Netter, 1987]. Die C-förmige, zurücklehnende Haltung wird auch die Zunahme des Abstands des Rumpfes und somit des Schultergürtels zum Arbeitsbereich zur Folge haben, denn die Arme müssen immer weiter reichen. Dieses Phänomen wird „kompensatorische Pro- traktion“ genannt, bei der es unmöglich ist, die Arme unabhängig voneinander zu bewegen: Die den Kopf stabilisierende Mus- kulatur behindert die Bewegung der Arme und Hände. Als Ausgleich verkürzen sich die die Armbewegung unterstützenden wichtigen Mm. pectorales majores und minores, was zu einer Anteroposition des Kopfes führt. Diese Anteroposition kann aufgrund des zunehmenden Drucks in den Skalenusmuskeln und ihrer typischen Struktur leicht zu einer verminderten Blut- zirkulation und Reizleitung in den Armen und Händen führen. Taubheit in Armen und Fingern ist die Folge. Weitere Zusammenhänge a) Gleichgewichtssinn: Für den Gleichge- wichtssinn sind die von den Augennerven, den Gleichgewichtsorganen und der Me- dulla oblongata gewonnenen, weitergelei- teten und verarbeitenden Informationen zur Orientierung an der absoluten Horizontalen verantwortlich. Dieser propriozeptive Gleich- gewichtssinn wird im Kleinhirn koordiniert. Die nozizeptive Stimulation von einem die- ser gleichgewichtsbezogenen Informations- zuflüsse kann einen Einfluss auf alle Struk- turen haben, die an der Propriozeption (Tie- fensensibilität) beteiligt sind [Netter, 1987]. b) Kaumuskulatur: Die Fixierung der Hals- wirbelsäule kann auch Auswirkungen auf die Kaumuskulatur des Zahnarztes oder der ZFA haben. Die Mundöffnungs- und Mundschließ- muskulatur wird durch den N. Trigeminus, den N. Facialis und den Ansa Cervicalis an- geregt, eine Schleife von Nervenbündeln, die ventral aus dem ersten, dem zweiten und dem dritten Halswirbel entspringen. Die feinmotorischen Bewegungen der Kau- muskeln werden jedoch im Kleinhirn koordi- niert. Eine zu starke Beugung nach vorne führt zu einer veränderten Lage des Unter- kiefers, was eine Veränderung der Auswir- kung der Schwerkraft auf den Unterkiefer und dessen umgebende Strukturen bewirkt. Dies wird als eine Veränderung der Proprio- zeption verstanden, was zu einer Hyper- aktivität der Kaumuskulatur führt, weil in den meisten Fällen mit geschlossenem Mund gearbeitet wird [Netter, 1987; Engels, 2005; Engels, 2010; Engels, 2015]. Ein korrekt symmetrisches Arbeiten mit vor- geneigtem Kopf kann darüber hinaus zu einem Zähnepressen beim Arbeiten führen (Abbildung 15). Zu einem einseitigen Aufeinanderbeißen oder Knirschen kommt es im Fall einer kombinierten Biegung und Drehung des Kopfs [Van Amerongen, 2001]. Abbildung 14: Die Bereiche der Wirbelsäule Quelle: Callimedia 34 Zahnärztliche Ergonomie
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