Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21
zm 107, Nr. 21, 1.11.2017, (2518) Die weißen Flecken in der braunen Geschichte der Zahnmedizin Während die gesellschaftspoliti- sche Rolle der Medizin und ihrer Akteure im Dritten Reich weit- reichend historisch bearbeitet wurde, kann dies für das Gebiet der Zahnmedizin bisher nicht ge- sagt werden. Diese Tatsache fin- det ihre Erklärung in einer Reihe objektiver und subjektiver Um- stände: Zum einen konzentrierte sich die Forschung auf die ideolo- gisch und strukturell vorrangige Rolle der Medizin und der Ärzte bei der Umsetzung des rassen- hygienischen Konzepts der „Auf- artung“ und der Schaffung eines sozial brauchbaren, „gesunden Volkskörper“, das von der Sen- kung der öffentlichen „Fürsorge- lasten“ für sogenanntes „lebens- unwertes Leben“ bis zur Wehr- ertüchtigung reichte. Dies hatte einen dramatischen Paradigmen- wechsel ärztlichen Handelns zur Folge, der zum Verlust des Rechts auf körperliche Integrität, zu Selektion und Ausmerze, zu Zwangssterilisation sogenannter „Erbminderwertiger“, zur mas- senhaften Euthanasie psychisch kranker Menschen und schließ- lich zur Verstrickung von Ärzten in den nationalsozialistischen Ge- nozid an den europäischen Juden führte. Zum anderen war der Anteil der Zahnmedizin und der Zahnärzte an dem apokalyp- tischen Inferno des „immensen Umfangs der Dehumanisierung der Medizin“ (Thom) des Dritten Reiches zunächst weniger augen- scheinlich. Diese scheinbare Diskrepanz zwischen Zahnmedizin und Me- dizin erleichterte es profilierten Standesvertretern imNachkriegs- deutschland über eine hartnäckige Politik der Ignoranz, Verharmlo- sung, Verdrängung und Legenden- bildung eine kritische Aufarbeitung der schuldhaften Beteiligung von Zahnärzten an nationalsozialis- tischen Verbrechen aus durch- sichtigen Gründen zu verhindern beziehungsweise über Jahrzehnte zu verzögern. Waren sie doch daran interessiert, ihre Karrieren in der Bundesrepublik als Rechts- nachfolger des Deutschen Reiches möglichst bruchlos fortzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass endlich ein erstes Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der NS-Zahnmedi- zin – finanziert von der DGZMK, der BZÄK und dem KZBV – am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Rhei- nisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen unter Leitung von Prof. Dres. mult. Dominik Groß realisiert wird. Ein wesentlicher Beitrag zum Thema wurde 2016 auch von Kirchhoff und Heidel mit der Publikation „... total fertig mit dem Nationalsozialismus“? vor- gelegt. Der Titel ist nicht zufällig den autobiografischen Reminiszenzen des ehemaligen Reichszahnärzte- führers, SA-Obersturmbannführers und Oberfeldarztes der Luftwaffe, Ernst Stuck, entnommen. In seiner Funktion als oberster zahnärztlicher Repräsentant des NS-Regimes war er für die Gleichschaltung, Einordnung und Ausrichtung der zahnärztlichen Versorgung, Lehre und Forschung in das rassen- hygienische System des national- sozialistischen Gesundheitswesens verantwortlich. Dies hinderte Stuck nicht, später in seinen Memoiren zu behaupten: „Ein Nazi im landläufigen Sinne war ich nicht. In meiner Stellung als Zahnärzteführer ging es mir in erster Linie nur um das Wohl und Wehe der Zahnärzte. Ihnen allein fühlte ich mich in diesen zwölf Jahren verbunden, nicht aber der Parteiideologie ...“ Diese Haltung der Verharmlosung und Banalisierung fand in führenden standespolitischen Kreisen bis in die Achtzigerjahre ein breites Echo. Die Bedeutung der Darstellung von Kirchhoff und Heidel besteht jedoch nicht in der Beschränkung auf die nationalsozialistische Verstrickung einzelner Persön- lichkeiten, sondern in einer weit gefächerten Übersicht der histo- rischen Abläufe in der berufs- ständischen und Wissenschafts- politik der deutschen Zahnmedi- zin von der Weimarer Republik bis zum bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschland. Zum Ver- ständnis der Entwicklung in den 1930er-Jahren werden zunächst die gesellschaftpolitischen Wider- sprüche im Gesundheitssystem der 1920er-Jahre, die soziale Situation des zahnärztlichen Be- rufsstands in seinen erbitterten Auseinandersetzungen mit dem Honorarsystem der Kassen und den als wachsende Konkurrenz empfundenen Dentisten rezipiert. In den anschließenden Kapiteln erfolgt schwerpunktmäßig die Aufarbeitung der aktiven Rolle der Zahnärzteschaft und ihrer Standesvertreter bei der Durch- setzung der nationalsozialis- tischen Politik, der Ausschaltung, Denunzierung, Vertreibung und Verfolgung jüdischer Standes- genossen und politisch uner- wünschter Zahnärzte sowie bei der Vorbereitung des Nach- wuchses auf die zukünftige Aggressionspolitik des Dritten Reiches. Diese Entwicklung wäre Caris-Petra Heidel, Wolfgang Kirchhoff: „... total fertig mit dem National- sozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus. Mabuse Verlag, 2016. ISBN: 9783938304211 465 Seiten, 53,95 Euro 92 Rezensionen
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