Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22

zm 107, Nr. 22, 16.11.2017, (2612) Leben auf einer Schädelstätte endet, dem Friedhof“, erläutert die Kuratorin, Dr. Uta Kornmeier. Ziel sei, das Verständnis von physischen und geistigen Behinderungen zu erweitern. Emily Steinbergs „Broken Eggs“ hinterfragt ebenfalls das simple Verständnis von Krank- heit und Gesundheit als absolute Zustände und betont stattdessen, dass Kranksein ein sich verändernder Zustand ist. Ihr Comic er- zählt von den Hoffnungen, Sehnsüchten und Enttäuschungen einer Frau vor und während ihrer Kinderwunschbehandlung. Die monatelangen medizinischen Unter- suchungen und Eingriffe verwandeln die „Kundin“ dabei in ein streng überwachtes Objekt klinischer Routine. Mehr als Micky Maus und Batman „Seit ihren Anfängen haben sich Comics immer stärker ausdifferenziert“, erläutert Kornmeier. „Sie sind weit mehr als Aben- teuer von Superhelden und lustigen Tier- figuren, mit denen das Medium häufig assoziiert wird. Stattdessen bieten sie spä- testens seit den 1970er-Jahren vielschichtige sprachlich-visuelle Erzählungen, die die gän- gigen Sichtweisen und Moralvorstellungen herausfordern.“ 1972 veröffentlichte Justin Green seinen Comic „Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary“. Darin berichtet der Künstler autobiografisch sehr direkt von seinem Leben mit Zwangsstörungen – seit- dem nehmen sich Comic-Autoren zuneh- mend heikle Themen vor. 1986 folgte der von Green inspirierte und hochgelobte Comic „Maus“ von Art Spiegelman, der den Schrecken des Holocaust mit Katzen als Nazis und Mäusen als Juden Gestalt verlieh. Dabei sprechen in den Comics die Außenseiter und Underdogs. „Sie ent- werfen kühne Geschichten aus der Per- spektive von Menschen, die aufgrund von Armut, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Gender, sexueller Orientierung, körperlicher oder geistiger Behinderung marginalisiert werden. Auch die hier ausgestellten Comics handeln von Außenseitern“, ergänzt die Kuratorin. Was ist krank, was gesund? So wie der Comic „Maus“ über den Holo- caust sollen auch die Comics aus dem Be- reich der Graphic Medicine die öffentliche Debatte anstoßen – zum Beispiel indem sie die verheerenden Auswirkungen von schlecht vermittelten Diagnosen verdeut- lichen oder auch die Grenzen des medi- zinisch Machbaren thematisieren. „Gleich- zeitig lassen sie aber auch Rückschlüsse zu“, erklärt Prof. Dr. Irmela Marei Krüger- Fürhoff. Denn auch wenn Krankheit und Behinderung individuell erlebt werden, seien sie nicht ausschließlich Privatsache, sondern auch in gesellschaftliche, kulturelle und gesundheitspolitische Kontexte einge- bettet. Mit welchen narrativen und visuellen Strategien die individuellen Krankheits- geschichten dargestellt und erzählt werden, will Krüger-Fürhoff herausfinden. Die Pro- fessorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin untersucht im interdisziplinären Forschungsprojekt „PathoGraphics“ gemeinsam mit ihrem Team unterschiedlichste literarische Texte und Comics, die sich aus autobiografischer und fiktionaler Perspektive mit Krankheit und Behinderung auseinandersetzen. „Wir gehen davon aus, dass bestimmte Themen, Der britische Comiczeichner und Arzt Ian Williams prägte 2012 den Begriff „Graphic Medicine“. Damit sind pri- mär Comics gemeint, die die einseitig ärztliche Perspektive hinterfragen und die Sichtweisen von Patienten, Familien- angehörigen und Pflegenden zeigen. „Comics der Graphic Medicine bieten aber auch Medizinern einen Ort, an dem sie ihre Unsicherheiten und Über- forderungen zum Ausdruck bringen können“, sagt Merrill Squier von der US-amerikanischen Penn State Univer- sity. Die Literaturwissenschaftlerin hat in den vergangenen Jahren im Genre der Graphic Medicine mehrere grund- legende Veröffentlichungen verfasst. „Der Glaube, dass Ärzte schon wissen, was sie tun, entpuppt sich im besten Fall als naiv, wenn wir einen Comic lesen, der uns mit der Würdelosigkeit manch medizinischer Behandlung konfrontiert“, erläutert Squier. „In diesen Comics geht es um mehr als Medizinkritik.“ Warum „Graphic Medicine“? Im Präparatesaal des Medizinhistorischen Museums der Charité sind die Comics ausgestellt. Hier stehen sich missgebildete Föten und der Comic „Erste Kindsbewegungen“ der Grafikerin Stef Lenk gegenüber. Lenk thematisiert die Übertragung von psychischer Krankheit und mentaler Widerstandskraft von der Mutter auf das Kind. Foto: zm-nb 50 Gesellschaft

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