Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 108, Nr. 01-02, 16.1.2018, (38) endodontischen Systems – auch indiziert. Somit kann dem Wunsch der Patientin nachgekommen werden. Mit Blick auf die Entscheidung bezüglich einer Meldung an KZV oder Kammer oder ein alternatives Einwirken auf den Kollegen hilft dieses Prinzip B. allerdings nicht weiter. Gerechtigkeit: a) gegenüber der Patientin und der Gemeinschaft der Versicherten: T. hat mit seinem Therapieschema einer dauerhaft temporären Wurzelfüllung gegen die Richtlinien des Gemeinsamen Bundes- ausschusses verstoßen, die (unter anderem) allen Patienten den Zugang zu zahn- medizinisch notwendigen Leistungen gewährleisten sollen. Die Richtlinie beschreibt unter Punkt 9.1. eine für den Patientenschutz durchaus sinnvolle „Ein- schränkung“ an die zu verwendenden Ma- terialien: „Es sollen biologisch verträgliche, erprobte, dauerhafte, randständige und röntgenpositive Wurzelfüllmaterialien ver- wendet werden.“ Folglich findet seitens T. nun schon seit mindestens vier Jahren systematisch eine diesbezüglich nicht richtlinienkonforme Versorgung seiner Patienten statt. Dass die Patientin S. einen erheblichen Eigenanteil zu tragen hatte, lässt die Möglichkeit offen, ob T. die Be- handlung rein privat und ohne Beteiligung der gesetzlichen Kostenträger durchgeführt hat. Auch in diesem Fall entspräche die Versorgung nicht dem Stand der Wissen- schaft, allerdings wäre statt der KZV die Kammer der richtige Ansprechpartner, da Leidtragender nicht die Gemeinschaft der Versicherten ist. b) gegenüber dem Kollegen: Ein zweiter Aspekt der Gerechtigkeit ist die Verhältnis- mäßigkeit einer Meldung des Kollegen bei der Standesvertretung. Zu überlegen ist, ob die Ungerechtigkeit, die den Patienten durch die unsachgemäße Wurzelfüllung sowie die eventuellen Folgekosten entsteht, eine möglicherweise ungerechtfertigte Meldung des Kollegen – im Sinne eines Verstoßes gegen die Kollegialität – auf- wiegt. So wird T. sein Handeln vielleicht damit rechtfertigen, seinen Patienten mit dem eingebrachten Material keinen Schaden zuzufügen, sondern ein biover- trägliches Produkt einzusetzen. Dagegen können die Folgen einer Meldung des Kollegen mit durchaus empfindlichen Sanktionen verbunden sein. Entsprechend sollte dieses Mittel nur als Ultima Ratio und nach sorgfältiger Abwägung aller Aspekte zum Einsatz kommen. Fazit: Einiges – nicht zuletzt auch die offensichtlichen Täuschungstatbestände von T. den Kostenträgern gegenüber – spricht auf den ersten Blick dafür, die Kam- mer beziehungsweise KZV zu informieren und das Verhalten des Kollegen anzuzeigen. Allerdings wird eingangs auch geschildert, dass die konservierende Versorgung der Patientin durchaus ordentlich ist. Somit verstößt T. nicht durchweg in seinem Handeln gegen das Patientenwohl. Eine Einsichtsfähigkeit würde ich a priori unter- stellen. Unter Wahrung der „Eskalationsstufen“ und der Kollegialität, nicht zuletzt auch der genannten Aspekte der Gerechtigkeit, empfehle ich folgendes Vorgehen: Abhängig davon, wie sich T. in einem kollegialen Gespräch äußert, lässt sich sicherlich einschätzen, ob eine Bereitschaft zur Korrektur des Vorgehens in Zukunft besteht. Dabei muss auch die suffiziente Revision der Wurzelkanalfüllung, zumindest vor einer anstehenden prothetischen Versorgung, angeraten werden. Im Gespräch müssen die oben genannten, insbesondere auch richtlinienbezogenen, Punkte angesprochen werden. Zeigt sich der Kollege auch nach Hinweis auf eine möglicherweise folgende Meldung des Ver- haltens uneinsichtig, sollte die zuständige Standesvertretung informiert werden. Die umgehende Beteiligung von Kammer oder KZV halte ich nicht für zwingend not- wendig. Zum Teil lassen sich dergleichen Probleme bereits durch Einschalten des Kreisstellenvorsitzenden als Mediator über den „kleinen Dienstweg“ lösen. Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei kon- kurrierenden, nicht miteinander zu ver- einbarenden Handlungsoptionen zu ent- scheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzi- pienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die un- abhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte an- gesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non- Malefizienz) und das Wohltunsgebot (Be- nefizienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbindliche Lösung, sondern vielfach können diffe- rierende Bewertungen und Handlungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommen- tatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik 38 Zahnmedizin

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