Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 04
zm 108, Nr. 4, 16.2.2018, (243) weicht. Die Vielzahl der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die bisherige GKV durch eine Ausweitung zu einer Bürgerversi- cherung entlastet würde, deutet eher auf weiteren Forschungs- statt auf eindeutigen Handlungsbedarf. Sollten mit einer Ausweitung der Beitrags- pflicht zusätzliche Einnahmen geschöpft werden, würde damit sogar vorübergehend der Druck gemindert, systematische Fehl- steuerung in der GKV zu korrigieren. Das mag auch eine Erklärung dafür sein, warum einzelne Akteure im Gesundheitswesen sich für die Bürgerversicherung gepaart mit einer Ausweitung der beitragspflichtigen Ein- kommen stark machen. Der Preis wäre allerdings hoch. Denn immerhin rund ein Zehntel der Bevölkerung sorgt in der PKV für seine altersbedingt stei- genden Ausgaben eigenverantwortlich vor, ohne dass diese auf die Schultern nachfol- gender Generationen überwälzt werden können. Dr. Jochen Pimpertz ist Leiter des Kompetenzfelds Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung im Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Foto: iwkoeln.de Dass die Bürgerversicherung nun doch nicht angepackt werden soll, erzürnt nicht wenige Genossen, ist die Bürgerversiche- rung doch eine Kernforderung der SPD. Angeführt wird dabei vor allem das „Ge- rechtigkeitsargument“. Grund genug, um sich aus gesundheitsökonomischer Per- spektive einmal des Themas der Gerechtig- keit anzunehmen. Ökonomen haben sich schon immer mit dem Begriff der „Gerechtigkeit“ schwerge- tan. Sie überlassen diese Definition dem Souverän und beschäftigen sich stattdes- sen lieber mit der Effizienz. Das heißt aber nicht, dass Gerechtigkeit in der (Gesund- heits-)Ökonomie keine Rolle spielt. Gemäß der polit-ökonomischen Theorie des „Schleiers der Ungewissheit“ von John Rawls ist die Sozialversicherung einer Ge- sellschaft, die sich durch eine wechselseiti- ge Kooperation auszeichnet und keinen Be- teiligten vom Ansatz her benachteiligt, durchaus gerecht und zum Wohle aller. Je- doch weiß man nicht zuletzt seit Vilfredo Pareto auch, dass man durch den Versuch der Herstellung von Gerechtigkeit neue Un- gerechtigkeiten erzeugen kann. Demzufol- ge ist eine Verteilung nach Pareto nur dann gerecht und effizient, wenn jemand besser, aber niemand schlechter gestellt wird. Kommen wir zurück zur Bürgerversiche- rung: Sicherlich ist es nicht logisch – und wenn man so will, auch nicht immer ge- recht –, dass jemand wie im heutigen Sys- tem über seinen Versicherungsschutz ent- scheiden kann. Dies wird nicht zuletzt durch eine staatlich festgelegte Versiche- rungspflichtgrenze determiniert. Fraglich ist nur, ob und wie dieses Problem gelöst werden kann, ohne dabei jemanden schlechter zu stellen. Gerechtigkeit entsteht nicht dadurch, dass man neue Ungerech- tigkeiten schafft. Umso mehr sollte dies bei einem potenziellen Umstieg auf eine Bür- gerversicherung sorgfältig analysiert wer- den, jenseits von Gerechtigkeitsplattitüden. Denn eines zeigt auch der internationale Systemvergleich: Menschen mit mehr Kaufkraft werden – egal in welchem System – immer versuchen, sich einen besseren Zu- gang zu Gesundheitsdienstleistungen zu verschaffen. Will man daher wirklich mehr Gerechtigkeit im Gesundheitssystem gene- rieren, so sollte man sich bewusst sein, dass vor allem auch das Gerechtigkeitsverständ- nis einer Gesellschaft den Gesundheitszu- stand der Bevölkerung in vielfältiger Form beeinflusst. Demnach determiniert eben dieses Gerechtigkeitsverständnis die Diskre- panz des Gesundheitszustands zwischen verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft. Unterschiedliche Gesundheitszustände können in Bezug auf den sozialen Status, die Ethnie, die geografische Lage, das Ge- schlecht und Ähnkliches existieren. Gerade auch in der Zahnmedizin ist bekannt, dass die Zahngesundheit (und hier vor al- lem auch der Umgang mit der Prophylaxe) mit verschiedenen, sozio-ökonomischen Indikato- ren korreliert. Möchte man sich daher ernsthaft des Gerechtig- keitsthemas annehmen, sollte man den Diskussionshorizont wohl etwas erweitern – das wäre dann auch für den Souverän glaubhafter, als nur ein Sto- chern im Schleier der Ungewissheit. Aus dem Blickwinkel der Zahnmedizin stellt sich die Diskussion über die Auswirkung der Bürgerversicherung auf die Versorgung der Patienten sowie auch für das Gesund- heitssystem als Ganzes hingegen anders dar: So wurden die Zahnärzte schon sehr früh, etwa durch bedeutende Reformen in den 1990er-Jahren, als eine der ersten Be- rufsgruppen im Gesundheitswesen dazu gezwungen, die Patienten damit zu kon- frontieren, dass sie – je nach präferierter Versorgung – Zuzahlungen leisten müssen. Grund war und ist, dass die Finanzierung der GKV alleine nicht ausreichte und -reicht. Dies führte schon früh dazu, dass die einzelne Praxis für unterschiedliche Prä- ferenzen und Zahlungsbereitschaften gute Versorgungsangebote bereithalten muss- te. Hier kann man die Zahnmedizin als Vor- reiter bezeichnen. Diesen Herausforderun- gen müssen sich die meisten der Leistungs- erbringer im Gesundheitswesen erst noch stellen. Für sie dürfte eine – wie auch im- mer ausgestaltete – Bürgerversicherung größere Veränderungen mit sich bringen. Andreas Beivers ist Professor für Volks- wirtschaftslehre und programmver- antwortlicher Studiendekan für Gesundheitsökonomie (Bachelor und Master) an der Hochschule Fresenius in München. Außerdem ist er Akademischer Direktor des Ludwig Fresenius Center for Health Care Manage- ment and Regulation an der Han- delshochschule Leipzig. Wie gerecht ist die Bürgerversicherung? K OMMENTAR Foto: Hochschule Fresenius John M. John 18 Politik
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