Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 05
zm 108, Nr. 5, 1.3.2018, (375) Der Arbeitskreis verfolgt die Ziele: das Thema „Ethik in der Zahnmedizin“ in Wissenschaft, Forschung und Lehre zu etablieren, das ethische Problembewusstsein der Zahnärzteschaft zu schärfen und die theoretischen und anwendungs- bezogenen Kenntnisse zur Bewältigung und Lösung von ethischen Konflikt- und Dilemmasituationen zu vermitteln. www.ak-ethik.de Arbeitskreis Ethik Der Zahnarzt erwägt, die Adressen des Soh- nes und der Tochter ausfindig zu machen, um sie auf die bereits erkennbaren und sich für die Zukunft abzeichnenden Probleme des Vaters hinzuweisen; auch ein Konsil mit dem am Ort befindlichen Hausarzt, einem Facharzt für Allgemeinmedizin, bei dem die Familie R. ebenfalls lange in Betreuung war, ist für ihn denkbar. Er fragt sich aber anderer- seits auch, ob er mit diesen eigeninitiativen Maßnahmen gegen die ärztliche Schweige- pflicht verstößt, zumal kein direkter recht- fertigender Notstand und (noch) keine un- mittelbare Gefährdung von Leib und Leben gegeben ist. Würde er sich nicht vielleicht vielmehr übergriffig in die persönlichen Angelegenheiten des Patienten und dessen Familie einmischen und auch die Patienten- autonomie missachten, da der Patient ja äußert, keine Probleme zu haben und gut klarzukommen? Wann ist die Grenze überschritten, die einen solchen Schritt rechtfertigt? Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Zentrum für Militärgeschichte und Sozial- wissenschaften der Bundeswehr Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam vollmuth@ak-ethik.de Dieser Fall stellt die schwierige Abgrenzung von unerlässlicher ärztlicher Fürsorge und unverhältnismäßiger Beschränkung der Patientenautonomie praxisnah dar. Gleich- zeitig wird die – manchmal fließende – Grenze zwischen ärztlicher Schweigepflicht sowie notwendiger Information von Ange- hörigen sichtbar. Im vorliegenden Beispiel wäre eine „Bauch- entscheidung“ fatal. Es ist daher sinnvoll, mithilfe der Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress zu einem nachvollziehbaren Entschluss zu kommen. Respekt vor der Patientenautonomie: Im Gespräch mit Dr. K. verneint Patient R. mögliche gesundheitliche Probleme. Die in dem Zusammenhang thematisierte mögli- che gebietsärztliche Abklärung der Konzen- trations- und Wortfindungsstörungen weist er ebenfalls von sich. Aus meiner Sicht rechtfertigen die geschilderten Symptome sowie die teilweise auffällige Desorientierung des Patienten nicht, auf eine mangelnde Entscheidungsfähigkeit von R. zu schließen. Die Patientenautonomie im Hinblick auf eine weiterführende ärztliche Abklärung muss daher in der aktuellen Situation zwingend respektiert werden. Sollte es in den nächsten Monaten zu einer augenscheinlichen Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation kommen und der Eindruck entstehen, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, selbstständige Entscheidungen zu treffen, beziehungsweise dass ein möglicher rechtfertigender Not- stand eintritt, ist eine erneute Bewertung zur möglichen Abwendung von Gefahren für Leib und Leben von R. notwendig. Nicht-Schadens-Prinzip (Non-Malefizienz) und ärztliche Verpflichtung auf das Wohl des Patienten (Benefizienz-Prinzip): Bei der Abwägung des Nichtschadens- gebots sind zwei Aspekte zu berücksich- tigen: eine Schädigung des Patienten durch einzelne Handlungen, aber auch die Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation, indem gebotene diagnostische oder therapeutische Maßnahmen unter- lassen werden. Im vorliegenden Fall stellt sich die Sachlage relativ klar dar. Sollte Dr. K. mit den Angehörigen von R. Kontakt auf- nehmen und Informationen über dessen Gesundheitszustand weitergeben, wird R. zwar nicht unmittelbar geschädigt. Aller- dings würde ein derartiges Vorgehen gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen und eine mittelbare Schädigung der Persön- lichkeitsrechte von R. und vor allem des Vertrauensverhältnisses zwischen Zahnarzt und Patient nach sich ziehen. Darüber hinaus nimmt der gesundheitliche Zustand des Patienten einen wichtigen Stel- lenwert bei der Bewertung zum weiteren Vorgehen ein. Die reine Zunahme der „Ver- gesslichkeit“ älterer Menschen führt sicher- lich nicht unmittelbar zur Verschlechterung der Gesundheit. Bei R. sind dagegen ein- deutige demenzielle Anzeichen erkennbar. Sollte sich die Verdachtsdiagnose bestäti- gen, könnte versucht werden, mit einer frühzeitigen medikamentösen Therapie das Fortschreiten der Krankheit zumindest zu verlangsamen. Darüber hinaus muss bei einem derartigen Krankheitsbild immer eine auftretende mögliche Selbst- oder Fremd- gefährdung berücksichtigt werden. An De- menz leidende Patienten haben ein erhöhtes Risiko, sich oder andere mit eigenständigen Handlungen (beispielsweise Trinken von Reinigungsmitteln oder Anlassen der Koch- Kommentar 1 „Die Patientenautonomie muss respektiert werden“ Oberfeldarzt Dr. André Müllerschön Foto: privat 23
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