Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 05

zm 108, Nr. 5, 1.3.2018, (378) Der Bericht berührt eine häufiger auftretende Situation. Nach dem Tod des Ehepartners kommt der Überlebende nicht mehr zu- recht. Vieles, was über Jahrzehnte mit ge- meinsam entwickelten Strategien im Detail immer wieder angepasst wurde, funktio- niert nicht mehr. Sicherheit geht verloren und der überlebende Partner ist im Alter auf sich alleine gestellt. Kinder, soweit vor- handen, wohnen fern und nehmen Ver- änderungen im Alltag oft nicht wahr. Das überlebende Elternteil kann die schleichen- den Veränderungen meist über eine längere Zeit verbergen. Gerade bei Witwern wird eine unsaubere Wohnung bis zu einem gewissen Grad als Folge der alten Geschlechterrolle akzeptiert. Der Patient stellt seinen lang- jährigen Familien-Zahnarzt vor ein ethisches Dilemma, denn die Frage ist zu ventilieren, ob eine „Einmischung“ des Zahnarztes erlaubt ist? Ab welchem Umstand dürfte er aus seiner Fürsorgepflicht seine ärztliche Schweigepflicht brechen? Eine eindeutige Lösung scheint es nicht zu geben. Konzentriert sich der Zahnarzt bei der Pro- blemlösung auf seine zahnärztliche Kom- petenz, so könnte er die abnehmende Mundhygiene und damit die gefährdete Mundgesundheit als Ausgangspunkt neh- men, um mit dem Hausarzt Rücksprache zu halten. Der Zahnarzt sollte seinem Patienten zeigen, dass dessen Mundgesundheit schlechter wird. Um allgemeinmedizinische Interaktionen ausschließen zu können, könnte er den Patienten bitten, sich mit dessen Hausarzt in Verbindung setzen zu dürfen. Auf diesem Wege könnte er, ohne seine Schweigepflicht zu verletzen, ein klä- rendes Gespräch mit dem Hausarzt führen. Weiterhin ist zu überlegen, ob die Kinder, die ehemalige Patienten waren, hinzugezogen werden könnten. Wenn der Patient wieder einmal einen Termin nicht wahrnimmt, könnte der Zahnarzt sich nach den Kindern erkundigen und den Patienten fragen, ob er diese hinsichtlich der Terminplanung ein- beziehen darf. Im Gespräch mit den Kindern könnte der Zahnarzt einbringen, dass ihm aufgefallen sei, dass die Mundgesundheit und die allgemeine Verfassung des Vaters nachgelassen haben und er es daher für be- sonders wichtig erachtet, dass der Vater zu Recall-Terminen zuverlässig erscheint. Insgesamt könnte das Vorgehen des Zahn- arztes als eine Überschreitung seiner Kom- petenzen angesehen werden. In gewisser Weise würde er mit so einer Maßnahme – streng genommen – seine ärztliche Schweigepflicht zumindest versuchen zu umgehen. Dennoch ist festzuhalten, dass der Zahnarzt gegenüber seinem langjährigen Patienten eine Fürsorgepflicht besitzt. Er sollte dazu zwingend herausfinden, ob überhaupt Kon- takt zwischen Kindern und Patient oder an- deren besteht. Juristisch betrachtet begibt sich der Zahnarzt hinsichtlich seiner ärzt- lichen Schweigepflicht dabei in einen Grau- bereich. Aus dem Blickwinkel der medizini- schen Ethik jedoch, scheint es in Anbetracht der Vorgeschichte von Zahnarzt und Patient eine ethische Verpflichtung zu sein, dem Kommentar 2 „Der Zahnarzt hat eine Fürsorgepflicht“ Prof. Dr. Ina Nitschke Foto: I. Riemer Dr. Julia Kunze Foto: wahrscheinlich, dass sowohl der Sohn als auch die Tochter entweder minimal oder überhaupt keine Kenntnis vom Zustand ihres Vaters haben. Wenn R., wovon aus- zugehen ist, über seine gesundheitliche Si- tuation nicht spricht, ist Dr. K. offensichtlich diesbezüglich eines der wenigen Binde- glieder zwischen Vater und Kindern. Im Sinne der Gerechtigkeit gegenüber dem Sohn und der Tochter wäre eine Weitergabe von Informationen geboten. Fazit: Nach Abwägung der einzelnen Prinzipien sollte Dr. K. versuchen, die Adressen der beiden Kinder herauszubekommen, und sie für den Zustand ihres Vaters sensibilisieren. Dabei ist es wichtig, die Vorgaben der ärzt- lichen Schweigepflicht einzuhalten und nur allgemeine Eindrücke und Beobachtungen mitzuteilen. Parallel dazu ist ein ausführliches Gespräch mit R. notwendig. Darin müssen erneut – sehr behutsam – die gesundheitliche Situation, etwaige weiterführende ärztliche Abklärungen sowie mögliche Hilfs- und Un- terstützungsangebote thematisiert werden. Ziel muss sein, R. die möglicherweise vor- handene Angst vor einer Stigmatisierung (Stichwort „Demenz“) sowie vor einem damit einhergehenden Verlust der Selbst- bestimmung durch eine nichtgewollte Ein- weisung in eine Pflegeeinrichtung zu neh- men und gleichzeitig einen Konsens zum weiteren Vorgehen zu erreichen. Um eine möglichst angenehme Atmosphäre zu gewährleisten, sollte das Gespräch nicht während eines regulären Behandlungster- mins stattfinden. Oberfeldarzt Dr. André Müllerschön Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg Werner-Heisenberg-Weg 39 85579 Neubiberg andremuellerschoen@bundeswehr.org 26 Patientenautonomie versus Fürsorgepflicht

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