Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 06
zm 108, Nr. 6, 16.3.2018, (514) Kinderzahnarztpraxis – Besser Bücher statt Bildschirme Zu den Rezensionen „Die besten Kinderbücher 2018“, zm 4/2018, S. 86–87. Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Lektüreempfehlungen für Kinder habe ich mich sehr gefreut – und doch muss ich gleichzeitig an die oft bunten Räumlichkeiten von Kinderzahn- arztpraxen denken. Da ich selbst zweifache Mutter bin und mich beruflich seit 20 Jahren intensiv mit Kindern in der Zahnarzt- praxis beschäftige, habe ich mir so einige Gedanken gemacht und möchte diese hier in einem Leserbrief zu Papier bringen. Kinder sind in der heutigen Zeit vielfältigen Reizen, etwa durch die Medien, ausgesetzt. Diese Reizüberflutung hat zur Folge, dass viele Schwierigkeiten haben, sich auf eine bestimmte Sache eine gewisse Zeit lang zu konzentrieren. Zum anderen sind viele Kinder auch überaktiv (da sie immer viel Aktion er- warten) oder gar hyperaktiv. Ein unruhiger Geist wirkt sich auch körperlich aus – wer kennt nicht das Phänomen des Zappel- philipps? Außerhalb der Schule bzw. in der Freizeit gibt es genügend Gelegenheiten zum Toben: zum Beispiel in jedem Möbelhaus, im Freizeitpark und in vielen großen Restaurants gibt es eine sogenannte Kinderecke. Was gibt es Schöneres für die Kiddies als ein Bällebad, eine lange und möglichst kurvige Rutschbahn oder eine Klettergelegenheit? Klar ist, dass auch in einer Kinderzahnarztpraxis so etwas klasse ankommt. Da hat (fast) jedes Kind Lust, hinzugehen. Doch wie bringe ich ein gerade noch fröhlich rumtobendes Kind dazu, sich gelassen und ruhig in meinen Behandlungsstuhl zu setzen? Mir dann auch noch ge- duldig zuzuhören, während ich ihm das Prozedere der Behand- lung erkläre und anschließend von ihm erwarte, dass es brav den Mund aufmacht und mich eventuell sogar die Karies ent- fernen lässt? Ich bin seit 20 Jahren selbst- ständig und habe das Privileg in einer Praxisgemeinschaft tätig zu sein, das heißt, ich kann mich hauptsächlich um die Kinder kümmern. 80 Prozent meiner Patienten sind unter 12 Jahren alt, die meisten davon noch im Kindergartenalter. Am Anfang der Selbstständigkeit 1997 kam ein Mal im Quartal der Anästhe- sist, und wir hatten einen Voll- narkosetag für die schwierigen Fälle. Im Laufe der Zeit habe ich mir ein recht einfaches, aber wirksames Konzept überlegt, um die Kinder schon im Warte- zimmer auf eine anstehende Behandlung vorzubereiten. In unserem separaten Kinder- wartezimmer steht weder ein Bildschirm noch eine verlockende Tobe-Ecke. Stattdessen gibt es an die 100 verschiedene Bücher, dafür ein gemütliches buntes Sofa (auf dem auch Eltern zum Vorlesen Platz nehmen können), dazu diverse Rätselhefte, Mal- bücher, Brettspiele und ca. 10 kg Duplosteine. Diese Angebote sind sehr beliebt. Gerade die bunten Bausteine kommen an, denn damit kann man auch bei relativ kurzer Wartezeit viele große Sachen bauen – auch mit ande- ren Kindern zusammen, die auf eine IP-Sitzung warten oder einfach als Geschwisterkinder mitgekommen sind. Diese Be- schäftigung wirkt beruhigend, die kleinen Patienten kommen gelassen und ausgeglichen in mein Behandlungszimmer. Meist verhandeln sie vor Behandlungs- beginn kurz mit mir darüber, ob sie nach der erfolgten Behand- lung noch weiterbauen dürfen. Und Grundschulkinder fragen oft, ob sie sich eines der Bücher zum Lesen ausleihen könnten. Manchmal bringen auch Eltern Brettspiele mit und ‚spenden‘ diese, weil sie zu Hause nicht mehr gebraucht werden. Prima erhaltene und aktuelle Kinder- bücher kann man zuhauf auf diversen Flohmärkten günstig entdecken. Sogar meinen Mit- arbeiterinnen macht es Spaß, das eine oder andere Buch von einem Trödelmarktausflug mit- zubringen. Mein Anästhesist war seit Jahren nicht mehr in unserer Praxis, und die Eltern freuen sich, nicht die Risiken einer Voll- narkose tragen zu müssen. Natürlich gibt es viele sehr unterschiedliche Kinder mit unterschiedlichen Vorge- schichten und eventuell trau- matischen Erlebnissen. Aber sogar die kleinen Patienten aus dem angrenzenden Kin- derdorf brauchen nach einem Erstkontakt keine Vollnarkose – bei manchen wirklich schweren Fällen reicht auch das Lachgas aus. Deshalb meine Anregung an interessierte Kollegen: Bietet den Kindern in der Wartezeit etwas für die eigene Fantasie – das fördert die Konzentrations- fähigkeit. Bauen, lesen und malen statt toben oder auf einen Bildschirm gucken. Viel- leicht ist ja gerade dies ein sinnvolles und gleichzeitig inte- ressantes Kontrastprogramm zu den üblichen bekannten Ange- boten. Ein Kind, dass daran gewöhnt ist, sich zahnärztlich nur in Vollnarkose behandeln zu lassen, verliert nicht die Angst vor dem Zahnarzt und wird diese Behandlung möglicher- weise ein Leben lang fordern und erwarten. Dr. Ruth Struck, Bergisch Gladbach Foto: Thorsten Ahrendt 10 Leserforum
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