Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 07
zm 108, Nr. 7, 1.4.2018, (642) jährigen Hausfrau, der seit jungen Jahren zwei Backenzähne fehlen und die damit nie Probleme hatte. Er fertigte Gipsmodelle des Ge- bisses, Fotos und ein Röntgenbild an und schickte diese an Kollegen. Erstmals publizierte er darüber in den zm (7/2010: „Die Balance zwischen Über- und Unterversor- gung“), sagte mir jedoch, dass er den Fall bis heute nutze und es weitere Publikationen gebe. Die Therapieempfehlungen, Heil- und Kostenpläne schwankten damals zwischen 50 und mehr als 5.000 Euro, es wurden Brücken, Im- plantate oder Nicht-Versorgung empfohlen. Als Grund für eine Versorgungsnotwendigkeit wurde beispielsweise angeführt, man müsse „frühzeitig implantieren, solange noch genügend Knochen da ist“. Durch die Eingriffe würden Kaufunktion und Hygienever- hältnisse verbessert sowie spätere Zahnwanderungen vermieden. Staehle sagt: „Immer wieder fällt auf, dass sich die Vorschläge nicht nur am Wohl der Patientin orien- tieren, sondern mit der Vorliebe des jeweiligen Kollegen zu tun haben.“ Er selbst entschied sich fürs Abwarten und untersucht die Patientin seither regelmäßig. Es schadete nicht: „Ihre Zahnlücken stellen sich unverändert dar.“ • Die Zeitschrift stern in Koope- ration mit der Krankenversiche- rung ErgoDirekt schickte vor sieben Jahren 23 Testpatienten zu 114 Zahnärzten. Das Fazit der drei Gutachter: „In mehr als 70 Prozent der getesteten Praxen wurden die Mindesterwartungen an eine sorgfältige Befund- und Beratungstätigkeit nicht erfüllt.“ • Die Verbraucherzentrale Ham- burg schickte im Jahr 2013 eine Patientin mit Karies an einem Ba- ckenzahn sowie einer Zahnlücke zu 30 Hamburger Zahnärzten. Die Zahnlücke war laut drei Refe- renzzahnärzten nicht behand- lungs-, sondern nur kontroll- bedürftig und die Patientin wünschte keine Behandlung. Nur fünf der 30 Zahnärzte erkannten die Karies. Die Behandlungsvor- schläge zur Zahnlücke variierten stark in Abhängigkeit vom Stadt- viertel – im reichen Poppenbüttel rieten acht von zehn Zahnärzten zur Versorgung, während in den zwei ärmeren Vierteln immerhin sieben von zehn Zahnärzten die Präferenz der Patientin für eine Nicht-Behandlung akzeptierten. • Die Stiftung Warentest schickte im Jahr 2015 (Heft 10) drei Test- patienten mit „komplizierten Den- talproblemen“ zu 15 Implantolo- gen. Die Behandlungsvorschläge überschritten diejenigen der Gut- achter preislich um mehr als 90 Prozent (knapp 11.000 Euro). Zur Qualität der Vorschläge bemerkte Stiftung Warentest: „Nur zwei der Behandlungspläne sind einiger- maßen in Ordnung, alle anderen schlecht.“ Außerdem würden sie „unnötige Risiken“ bergen, fünf Zahnärzte „unterließen wichtige Voruntersuchungen, etwa auf Zahn- wurzelentzündung (Parodontitis)“. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte die Zeitschrift bereits im Juli 2014, als 21 Testpatienten mit Zahner- satz-Problemen zu 15 deutschen sowie sechs polnischen Zahn- ärzten geschickt wurden. Sie mögen jede einzelne dieser Untersuchungen als „nicht reprä- sentativ“ verwerfen sowie hier und dort methodische Mängel finden. Ein Problem können Sie nicht wegdiskutieren: Andere Unter- suchungen zur Qualitätssicherung in zahnärzlichen Praxen gibt es kaum – an der Situation der Ver- sorgungsforschung in Deutschland, die Bauer et al. 2009 in ihrem Buch „Zahnmedizinische Versor- gung in Deutschland“ beschrieben, hat sich nichts geändert. Ich for- dere Ihre Institutionen und For- schungsinstitute auf: Wenn Sie belegen wollen, dass all diese Untersuchungen irren, dann be- weisen Sie es! Es wäre jedoch sehr überraschend, wenn ein anderes Ergebnis herauskäme. Denn Über- diagnostik und -therapie sind die großen Grundprobleme unseres Gesundheitssystems, das seit Jahr- zehnten falsche Anreize setzt. Aus dem Schwesterfach Human- medizin (das ich studiert und in dem ich gearbeitet habe) gibt es allseits bekannte Beispiele, die in der Ärzteschaft seit langem dis- kutiert werden – unnötige Band- scheiben-Operationen, Endopro- thesen, Krebsvorsorge- und Herz- katheter-Untersuchungen mit all ihren Risiken – und die oft frag- würdigen IGeL-Leistungen. Die massive Überversorgung geschieht, damit am Ende des Jahres die Rendite stimmt. Die offene Dis- kussion über diese Missstände findet Niederschlag in unzähligen Fachdiskussionen, die ihren Weg längst in die Standesmedien fan- den. Weltweit fanden sich Ärzte zu der 2011 in den USA gestarteten Initiative „Choosing wisely“ zu- sammen (in Deutschland: „Ge- meinsam klug entscheiden“). All diese Ärzte treten dagegen an, dass Patienten unnötigen und teil- weise gefährlichen Prozeduren ausgesetzt werden, aus welchen Motiven auch immer. Wo bleibt Ihre Debatte darüber? Zahnärzte sind in viel höherem Maße den Kräften des freien Marktes ausge- setzt als Ärzte, weil sie überwie- gend selbstständig arbeiten und heute weitaus höhere Investitionen für repräsentative Praxisräume und technische Ausstattung tätigen müssen als vor 30 Jahren. Rendite wird zum Zwang, um den hohen Kredit abzubezahlen. Wer käme da nicht in Versuchung, an den Steigerungsfaktoren und für den Patienten nicht durchschaubaren Zusatzleistungen zu manipulieren? Wo Zahnärzte sich doch leichter als Ärzte der Kontrolle durch gesetzliche Krankenkassen und ihrer Gutachter völlig entziehen können, wenn sie Kassenpatienten auf rein privater Basis behandeln! Wie also können Sie annehmen, dass ausgerechnet Zahnärzte unter diesen Bedingungen keine Krankheits- und Therapieerfindung betreiben? Die Zahlen, die dahin deuten, liegen doch auf dem Tisch, ich habe sie in meinem Artikel ge- bracht: Die Mundgesundheit hat zugenommen, die Einnahmen der Zahnarztpraxen auch – allein um 7,4 Prozent von 2012 auf 2013, um 54,1 Prozent seit dem Jahr 2000 – so können Sie es im Statistischen Jahrbuch der BZÄK nachlesen. Man müsse die Inflation herausrechnen, dann bliebe nichts übrig, schrieben mir manche Zahnärzte – als ob nicht die (abnehmende) Krank- heitshäufigkeit die Höhe der Ein- künfte bestimmen sollte, sondern ähnlich wie bei DGB-Forderungen ein Anspruch auf jährliche An- passsungen des Salärs an die all- gemeine Einkommens- und Preis- entwicklung bestünde. Zur Beruhi- gung: Nach Inflationsbereinigung bleibt ein Einkommenszuwachs von 24,9 Prozent. Das heißt natürlich nicht, dass der Einzelne heute reicher ist, ich bekam Briefe von Zahn- ärzten, die angeblich am Hunger- tuch nagen. Nein, die Einnahmen verteilen sich auf eine nie erreichte Zahl von Zahnärzten – 71000. Das sind doch gegenläufige Entwick- lungen, die für sich sprechen. Mehr Zahngesundheit. Mehr Zahn- ärzte. Mehr Einnahmen. Das geht nicht zusammen. Soviel Geld wird nicht durch die professionelle Zahnreinigung und die Beratung zur Kariesprävention verdient, sondern auch durch invasive Ein- griffe. Und die stellen, auch wenn 10 Leserforum
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