Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 07
zm 108, Nr. 7, 1.4.2018, (644) IQWiG-Portal – Der mündige Patient ist eine Schimäre Zum Beitrag „IQWiG stellt Konzept vor – Ein Portal für alle“, zm 5/2018, S. 32–34 Der „mündige Patient” – ist die- ses die heutigen Diskussionen beherrschende Schlagwort einer „Political Correctness“ ein realis- tisches Ziel oder eine utopische Schimäre eines ideologisch gefärb- ten, sich als sozial darstellenden Zeitgeistes oder Mainstreams? Der mündige Patient leitet sich ab vom mündigen Bürger. Ein Be- griff, der entstanden ist als Folge der Aufklärung (z. B. Voltaire) und dann der Französischen Revolu- tion. Die Entstehung des mündi- gen Bürgers bedeutete damals eine längst überfällige Abkehr vom Absolutismus der Monarchie und der klerikalen Bevormundung. Immanuel Kant schreibt der Mündigkeit den Verstand zu, und im 20. Jahrhundert verlangen Max Horkheimer und Theodor Adorno die Vernunft als Voraus- setzung zur Erlangung von Mün- digkeit. Der Professor für Philo- sophie an der LMU München, Thomas Buchheim, verbindet die Mündigkeit außerdemmit mora- lischem Gewissen und gleicher Lebensführung. Führen wir uns nun vor Augen, dass die staatliche Autorität dem Bürger die in man- chen Dingen – etwa vollständige Geschäftsfähigkeit – eingeschränkte Mündigkeit erst mit 18 Jahren (früher 21, zukünftig vielleicht 16) zubilligt, dann kann Mündigkeit scheinbar erst durch Erfahrung erlangt werden. Der Schüler erlangt seine fach- liche Mündigkeit dadurch, dass er langsam an die Komplexität eines Faches herangeführt wird. Für die Sprache sollte das die Grammatik und die Literatur sein und für z. B. die Mathematik geht das über Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, über die Geometrie bis hin zur Kurven- diskussion und so weiter. Daraus geht dann hervor, dass bei allem Verstand Kants und bei aller Ver- nunft Adornos und Horkheimers und bei allem moralischen Ge- wissen des Thomas Buchheim ein gewisses Maß an Grundwissen und Erfahrung Voraussetzung ist zur Erlangung von Mündigkeit auf einem bestimmten Gebiet. Mündig kann man heute niemals mehr universal sein. Dazu ist das heutige Wissen im Allgemeinen, aber auch im Speziellen viel zu umfangreich geworden. So ist z. B. nicht anzunehmen, dass jeder Mediziner und Zahnmediziner universelle Mündigkeit bezüglich seiner IT-Systeme einschließlich Programmierung vorweisen kann. Da sind wir abhängig von Fach- leuten und keineswegs mündig. Hier muss dann Vertrauen an die Stelle von Mündigkeit gestellt werden. In Bezug auf den Arzt oder Zahnarzt muss dann das- selbe gelten. Zurück zu Kant und vor zum „mündigen Patienten“. Der Ver- stand als eine Voraussetzung zur Mündigkeit wird von ihm folgen- dermaßen definiert: Verstand ist das Vermögen spontaner, selbst- aktiv zu vollziehender Denkhand- lungen. Aus medizinischer Sicht muss sich hier in Bezug auf den vermeintlich mündigen Patienten die Frage anschließen, ob der Patient diese selbstaktiv zu voll- ziehenden Denkhandlungen in der Medizin mangels Vorbildung (Studium, Fachausbildung, Fortbil- dung) überhaupt erbringen kann. Begrifflichkeiten wie hier die Mündigkeit wurden gestern und werden heute von der Philo- sophie definiert und dann in die einzelnen Fachbereiche oder Dis- ziplinen übertragen. Dabei scheint in Bezug auf den mündigen Pa- tienten einiges verloren gegangen zu sein. Nun sagt die Philosophie, und das ist durchaus einleuchtend, Mündigkeit sei die Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne die Lei- tung eines anderen zu bedienen. Hier fließt dann zum ersten Mal der Begriff „Fähigkeit“ ein. Fähig- keit aber setzt Talent, Lernen (Studieren) und Erfahrung voraus, denn nach Aristoteles soll durch eine Fähigkeit aus einer (hier medizinischen) Möglichkeit (hier medizinische) Realität werden. Kann der „mündige Patient“ die drei Entitäten einer (hier medi- zinischen) Fähigkeit überhaupt vorweisen? Wenn nicht, ist er dann wirklich ein „mündiger Patient“? Kann er es überhaupt sein? Sind wir Zahnärzte beim Endokrinologen mündige Patien- ten? Weiter schließt für die Philo- sophie die Mündigkeit die „auto- nome Selbsttätigkeit“ ein. Sind für den mündigen Patienten das Fernsehen, das eine oder andere populärwissenschaftliche Buch, das Internet, der medizinische Teil der Tageszeitungen, die von der jungen Generation kaum noch jemand abonniert, die Gesund- heitsläden, die von medizinischen Laien besetzten Beratungsstellen der Krankenkassen als Quellen für ihre patientenseitige Mündigkeit wirklich ausreichend, obwohl sogar diese ihrer Natur gemäß unvoll- ständigen Quellen von ihmmeist nur unvollständig erschlossen und unzureichend interpretiert werden können? Mündigkeit muss errun- gen werden – durch Wissen und nicht durch Halbwissen. Es reicht nicht, lediglich Tochter oder Sohn eines Arztes zu sein. Wissen in der Medizin bedeutet fortwährendes Studium. Nur dadurch kann Mündigkeit erlangt werden! Sie schließt sich für den normalen Patienten also aus. Der „mündige Patient“ soll zu- künftig die für ihn bestimmten Therapien mitbestimmen können. Das hieße aber, dass Halb-, Viertel- oder Achtelwissen dem Patienten hilft, sich mit Arzt oder Zahnarzt auf vermeintlicher „Augenhöhe” zu befinden. Zynisch könnte man fragen, was das ganze Studium und die langwierige Fachausbil- dung dann überhaupt sollen. Vom Arzt und Zahnarzt verlangt man immer mehr und intensivere Aus- und Fortbildung. Der Patient aber wird (vorsichtig gesagt) bei zu- mindest stagnierendem Grund- wissen immer mündiger. Der medizinischen Utopie öffnen sich Tür und Tor. Der „mündige Patient“ will mitbestimmen, und wehe sein Arzt oder Zahnarzt richtet sich nicht danach. Juristisch aber liegt die alleinige Verantwortung beim Arzt oder Zahnarzt. Einer der Widersprüche im heutigen medi- zinischen Alltag – und wir machen das mit. Der Patient wird immer verwirrter. In seinem durch Halb- und Viertelwissen begründeten Misstrauen holt er sich Zweit-, Dritt- und Viertmeinungen ein, wählt die kurzfristig bequemste Lösung. Geht das langfristig aber schief, sind natürlich die bösen „Götter in Weiß“ schuld. Er sollte sich stattdessen einen Arzt suchen, dem er meint sein Vertrauen schenken zu können. Vollkommen ideologiefrei konsta- tiert der erwähnte Thomas Buch- heim: „Mündig sein und sich mündig denken ist nicht dasselbe und im ‚Patientsein‘ schlechter- dings unmöglich.” Dr. medic-stom/RU Martin Klehmet 12 Leserforum
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