Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09

zm 108, Nr. 9, 1.5.2018, (936) Der Fall: Die 63-jährige, privat versicherte Patientin A. M. stellt sich in der Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien des Uniklinikums Aachen vor. Behandlungs- ziel ist die Neuversorgung des Oberkiefers. Vorhanden sind zu diesem Zeitpunkt die Zähne 16, 13–23 und 26 (Vgl. Abbildung 1 der nachfolgenden klinischen Falllösung). Die Mundhygiene der Patientin ist gut. Zuvor hat A. M. in eben dieser Frage bereits zwei andere Zahnärzte konsultiert: Ihr Haus- zahnarzt Dr. A. hat ihr mitgeteilt, dass die Zähne in ihrem Oberkiefer nicht zu halten seien. Aus seiner Sicht kämen allein die Extraktion aller acht Zähne und die anschlie- ßende Anfertigung einer Totalprothese in Betracht. Obgleich die Patientin – unter- stützt von ihrem Ehemann – in Gesprächen mit dem Hauszahnarzt wiederholt betont hat, wie sehr ihr am (partiellen) Erhalt eigener Zähne gelegen sei und dass sie eigentlich keine Totalprothese wünsche, sieht dieser seinen Therapievorschlag als alternativlos an. Um eine Zweitmeinung einzuholen, hat die verunsicherte Patientin anschließend den Implantologen Dr. B. aufgesucht und dort ihre Wünsche und Fragen vorgebracht. Dieser hat ihr nach kurzer klinischer Inspek- tion des Kiefers das „All-on-4“-Konzept empfohlen, das heißt die Entfernung aller acht Zähne des Oberkiefers, das Einbringen von vier Implantaten und die Sofort- versorgung eines ganzen Kiefers mit einer festsitzenden, rein implantatgetragenen Brücke. Auch er sieht – selbst auf Nachfrage der Patientin – keine Alternative zu seinem Behandlungsvorschlag und der damit ver- bundenen Reihenextraktion. Da die Patientin mit beiden Therapievor- schlägen unglücklich ist, bittet sie nun den Oberarzt Dr. C. an der Zahnklinik in Aachen um eine Dritt-Meinung. Dieser befundet die dentale und die parodontale Situation sowohl klinisch als auch radiologisch und legt dann die Wertigkeit der Zähne fest. Sei- ner Einschätzung zufolge weisen die beiden Molaren eine infauste, die Zähne 13, 12 und 23 eine fragliche und die Zähne 11, 21 und 22 eine sichere Prognose auf. Er sieht auf der Basis dieser Analyse durchaus die Mög- lichkeit, dem Patientenwunsch nach Erhalt der prognostisch günstigen Frontzähne Rechnung zu tragen – sei es über eine tele- skopierende Prothese oder über implantat- Die klinisch-ethische Falldiskussion „All-on-4“ oder Zahnerhalt: Wie direktiv dürfen Patientenaufklärungen sein? Taskin Tuna, Dominik Groß, Karin Groß, Stefan Wolfart Eine 63-jährige Patientin wünscht sich den Erhalt ihrer Zähne, sowohl der Haus- zahnarzt als auch ein Implantologe raten davon ab – und stellen ihre Therapie- optionen als alternativlos dar. Der dritte hinzugezogene Zahnarzt versteht dies nicht. Er möchte dem – in seinen Augen verständlichen – Patientenwunsch Rechnung tragen. Andererseits will er die Kompetenz der beiden anderen Zahn- ärzte nicht öffentlich anzweifeln und dem Kollegialitätsgebot gerecht werden. Wie sollte er sich verhalten? „Ich weiß schon, wie wir es machen! Wir nehmen die ‚All-on-4‘-Lösung: Da bekommen Sie vier Implantate mit einer festsitzenden Brückenversorgung. Foto: iStockphoto.com - danchooalex Experten präsentieren Fälle mit ethischem Klärungsbedarf. 40 Die klinisch-ethische Falldiskussion

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