Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09

zm 108, Nr. 9, 1.5.2018, (937) Im vorliegenden Fall kommen drei ethische Prinzipien besonders zum Tragen: der „Respekt vor der Patientenautonomie“, das „Nichtschadensgebot“ und das „Benefizienz- Gebot“. Respekt vor der Patientenautonomie: Zunächst fällt auf, dass die Patientenauto- nomie von den ersten beiden konsultierten Zahnärzten nicht hinreichend beachtet worden ist: Die Patientin hat deutlich gemacht, dass ihr der Erhalt ihrer Zähne – soweit medizinisch vertretbar – wichtig ist. Hierauf sind beide Kollegen nicht einge- gangen, obwohl es durchaus Versorgungs- optionen gibt, die die erhaltungswürdigen Zähne miteinbeziehen, namentlich eine teleskopierende Prothese oder implantat- verankerte Brücken in der Kombination mit beidseitigem Sinuslift unter Erhalt der Front- zähne. Stattdessen haben beide Zahnärzte direktiv aufgeklärt, das heißt, sie haben die von ihnen favorisierte Therapie nicht nur als vorzugswürdig, sondern sogar als alternativ- los dargestellt. Diese Art der Aufklärung ist nicht nur ethisch, sondern auch forensisch problematisch: Jedes Aufklärungsgespräch muss vollständig und umfassend sein – und dazu gehört eben auch, über Therapiealter- nativen aufzuklären. Im vorliegenden Fall gibt es offensichtlich alternative Optionen: Die Zahnärzte A. und B. haben ihrerseits bereits unterschiedliche Therapien (Voll- prothese vs. „All-on-4“) vorgeschlagen; hin- zu kommen die erwähnten Versorgungs- optionen unter Erhalt einzelner Zähne. Ziel eines jeden Aufklärungsgesprächs sollte es sein, den Patienten auf einen Informations- stand zu bringen, der ein „Shared decision making“ – eine gemeinsame Entscheidungs- findung von Patient und Zahnarzt – ermög- licht. Nur dann ist die Zustimmung eines Patienten tatsächlich ein „Informed con- sent“, das heißt eine Einwilligung nach voll- ständiger Information. Freilich gibt es auch Fälle, in denen nur eine einzige Therapie sinnvoll erscheint oder aber in denen ein Patientenwunsch formuliert wird, für den keine medizinische Indikation besteht – in diesen Fällen kann der Zahnarzt natürlich auch nur eine Therapieoption be- nennen beziehungsweise er muss den ab- wegigen Wunsch abschlägig bescheiden. Beide Fallkonstellationen liegen hier jedoch nicht vor. Nicht-Schadens-Prinzip (Non-Malefizienz): Der zweite Blick muss dem Non-Malefizienz- Gebot gelten, das heißt der Vermeidung eines (ungerechtfertigten) Schadens: Das Extrahieren nicht beziehungsweise fraglich erhaltungswürdiger Zähne ist zweifellos durch das Nichtschadensgebot gedeckt – umso mehr, wenn man bedenkt, dass schadhafte Zähne verschiedenste Probleme auslösen können. Insofern sollten diese kein (konstitutiver) Bestandteil einer Neu- versorgung sein. Kommentar 1 „Alle Therapieoptionen sollten offen und non-direktiv besprochen werden“ verankerte Brücken mit beidseitigem Sinus- lift. Daher irritieren ihn die Bereitschaft und die Entschlossenheit der Zahnärzte A. und B., alle Zähne zu ziehen. Ebenso überrascht ihn, dass beide ihre Therapievorschläge der Patientin gegenüber als alternativlos kom- muniziert haben, obwohl diese anderslau- tende Wünsche geäußert hat. Im „All-on-4“- Konzept sieht er – bemessen am Patienten- wunsch und am vorliegenden oralen Be- fund – insgeheim ein Overtreatment. Als die Patientin Dr. C. fragt, wie er die Therapievorschläge der Kollegen – Total- extraktion und Vollprothese beziehungs- weise Totalextraktion und „All-on-4“-Ver- sorgung – beurteilt, reagiert er verunsichert. Er möchte dem in seinen Augen verständ- lichen Patientenwunsch Rechnung tragen; andererseits will er die Kompetenz der beiden anderen Zahnärzte nicht (öffentlich) anzweifeln und dem Kollegialitätsgebot gerecht werden. Wie also sollte er sich ver- halten und was sollte er vorschlagen? Dr. med dent. Taskin Tuna Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien Universitätsklinikum Aachen RWTH Aachen University Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen ttuna@ukaachen.de Der Arbeitskreis verfolgt die Ziele: das Thema „Ethik in der Zahnmedizin“ in Wissenschaft, Forschung und Lehre zu etablieren, das ethische Problembewusstsein der Zahnärzteschaft zu schärfen und die theoretischen und anwendungs- bezogenen Kenntnisse zur Bewältigung und Lösung von ethischen Konflikt- und Dilemmasituationen zu vermitteln. www.ak-ethik.de Arbeitskreis Ethik Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med dent. Dr. phil. Dominik Groß Foto: privat Dr. med dent. Karin Groß Foto: privat 41

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