Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09

zm 108, Nr. 9, 1.5.2018, (938) Dies trifft jedoch nicht für erhaltungswürdige Zähne zu; hierfür müssten spezifische Gründe pro extractione (zum Beispiel bestehende krankheitsbedingte Risiken) vorliegen, und überdies müsste eine Reihenextraktion durch den Patientenwunsch gedeckt sein. Beides ist hier nicht gegeben. Insofern kol- lidiert die Extraktion erhaltungswürdiger Zähne mit dem Nichtschadensgebot – ebendies spricht sowohl gegen eine Versor- gung mit einer Totalprothese als auch gegen das „All-on-4“-Konzept. Demgegenüber erlaubt eine teleskopierende Prothese den Erhalt der besagten Frontzähne und deren Versorgung mit Teleskopkronen; Ähnliches gilt etwa für eine Geschiebearbeit. Auch der zweite von Zahnarzt C. genannte Ver- sorgungsvorschlag nimmt auf den Erhalt prognostisch günstiger Zähne Rücksicht: Hier würden die Zähne 13 bis 23 mit Kronen versorgt; im Seitenzahnbereich wären – nach beidseitigem Sinuslift – implantat- verankerte Brücken von jeweils 16–14 und 24–26 geplant. Besagte Versorgung ist allerdings aufwendiger und invasiver – das heißt, der hierbei gesetzte „Schaden“ wäre abzuwägen gegen den erzielbaren Benefit, was uns zum dritten Prinzip – der Benefi- zienz – führt. Ärztliche Verpflichtung auf das Wohl des Patienten (Benefizienz-Prinzip): Leitfrage des Benefizienz-Prinzips ist die Frage: Womit ist dem Patienten (langfristig) am meisten gedient? Hierbei fallen Fragen der erzielbaren Lebensqualität (spezifischer: der oralen Versorgungsqualität), der Nach- sorgefähigkeit und der Verhältnismäßigkeit der Versorgung (Kosten-Nutzen-Verhältnis) ins Gewicht: Was die orale Versorgungs- qualität betrifft, so dürfte die Vollprothese in den Augen vieler Patienten als Substandard gelten; zudem ist sie hier insofern unverhält- nismäßig, als sie eine Reihenextraktion zur Voraussetzung hat. Letzteres gilt auch für die „All-on-4“-Lösung. Sie bietet allerdings auch Vorteile: eine ge- ringe Behandlungsdauer, das Entfallen der Sinuslifts, eine (gegebenenfalls provisorische) prothetische Sofortversorgung der Implan- tate. Zu bedenken sind aber auch mögliche Einbußen in der Ästhetik und eine fragliche Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkur- rierenden, nicht miteinander zu vereinba- renden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzep- tionen (wie die Tugendethik, die Pflichten- ethik, der Konsequentialismus oder die Für- sorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipien- ethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Über- zeugungen als allgemein gültige ethisch- moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander ab- gewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non-Ma- lefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Ge- rechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik er- möglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamt- beurteilungen und Entscheidungen. Des- halb werden bei klinisch-ethischen Fall- diskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik „Die Extraktion erhaltungswürdiger Zähne kollidiert mit dem Nichtschadensgebot – dies spricht sowohl gegen eine Versorgung mit einer Totalprothese als auch gegen das ‚All-on-4‘-Konzept.“ Foto: iStockphoto.com - danchooalex 42 Die klinisch-ethische Falldiskussion

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