Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 09

zm 108, Nr. 9, 1.5.2018, (940) Nachsorgefähigkeit; auch ist umstritten, ob eine festsitzende Versorgung auf der Basis von lediglich vier Implantaten langfristig der Kaubelastung standhält; zudem besteht das Risiko einer Periimplantitis. Da hier eine Extraktion erhaltungswürdiger Zähne mit letztlich aufwendigen implantologischen Folgemaßnahmen kombiniert wird und diese Gesamtversorgung über den eigentlichen Patientenwunsch hinausweist, erscheint es tatsächlich gerechtfertigt, von Übertherapie („Overtreatment“) zu sprechen. Eine Teleskopkonstruktion bietet nicht die- selbe orale Versorgungsqualität und zeigt zudem schlechtere Langzeitergebnisse als eine festsitzende Restauration; sie ist jedoch andererseits gut nachsorgbar beziehungs- weise erweiterbar. Das Konzept der implantatgetragenen Brücken kommt ebenfalls ohne Reihen- extraktionen aus und lässt eine hohe Versorgungsqualität erwarten, ist jedoch operativ und finanziell (Sinuslifts, zwei implantatgetragene Brücken) deutlich auf- wendiger. Gerechtigkeit: Das vierte ethische Gebot der „Prinzipien- ethik“ – die Gerechtigkeit – spielt im vor- liegenden Fall nur eine akzessorische Rolle: Die Patientin ist privatversichert und tritt entweder als Selbstzahlerin auf oder hat sich – bei entsprechenden tariflichen Mehr- kosten – so umfassend privat versichert, dass die Versicherung eine prothetische beziehungsweise implantatgestützte Ver- sorgung (anteilig) übernimmt. In beiden Fällen belasten die anfallenden Kosten – anders als bei GKV-Leistungen – nicht eine am Solidarprinzip orientierte Versicherten- gemeinschaft, sondern werden schluss- endlich privat getragen. Fazit: Unterm Strich ist festzuhalten, dass sowohl der Respekt vor der Patientenautonomie als auch das Nichtschadensgebot gegen die apodiktischen Empfehlungen der Zahnärzte A. und B. sprechen. Wie also sollte sich C. verhalten? Es ist sinnvoll und notwendig, dass er alle bestehenden therapeutischen Optionen offen anspricht und deren je- weilige Vor- und Nachteile – non-direktiv – mit der Patientin bespricht. Dabei sollte er darauf hinweisen, dass Zahnärzte durchaus zu unterschiedlichen fachlichen Einschät- zungen kommen können: Dieser Hinweis dürfte sich nicht nur mit der Erfahrung der Patientin decken – immerhin haben ihr die Zahnärzte A. und B. selbst höchst unterschiedliche Therapieempfehlungen gegeben –, sondern liefert zugleich eine Erklärung, die die zuvor konsultierten Kollegen nicht herabsetzt. Insofern verstößt C. mit seiner differenzierten Aufklärung auch nicht gegen das Kollegialitätsgebot. Wenn die Patientin an ihrem initialen Wunsch festhält, Zähne mit einer günstigen Prognose zu erhalten, bleibt ihr so die Wahl zwischen zwei unterschiedlich aufwendigen und komfortablen Versorgungskonzepten. Ebenso ist es letztlich ihr überlassen, den Behandler ihres Vertrauens zu wählen. Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med dent. Dr. phil. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Universitätsklinikum Aachen RWTH Aachen University Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Dr. med dent. Karin Groß Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien Universitätsklinikum Aachen RWTH Aachen University Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen Um das ethische Dilemma dieses Patienten- falls strukturiert zu analysieren, greift diese Fallanalyse ebenfalls auf die vier Prinzipien nach Beauchamp/Childress zurück: Respekt vor der Patientenautonomie: Die Entscheidung für eine Therapieform durch die Patientin kann nur (a) auf Grund- lage einer umfassenden und fachkompeten- ten Aufklärung erfolgen. Dabei sollte (b) die geplante Therapieform auch dem Wunsch der Patientin entsprechen, sofern das mög- lich ist. Beides wurde von den Zahnärzten A. und B. nach Angaben der Patientin nicht ausreichend gewährleistet: (a) Die Aufklärung über die aktuellen Befunde, Diagnosen, Zahnprognosen und die resultierenden Therapiemöglichkeiten wurden jeweils nur einseitig beleuchtet. Auch hätten die Kolle- gen darüber informieren müssen, dass man erst nach Vorbehandlung und Reevaluation definitiv entscheiden kann, ob die Zähne in eine prothetische Versorgung einbezogen werden können oder nicht. Über die er- wähnten Alternativversorgungen (1) Tele- skoparbeit (und vollständigkeitshalber auch über weitere herausnehmbare Versorgungs- konzepte) und (2) zahn- und implantat- getragene Kronen und Brücken mit Sinuslift hätten die Kollegen aufklären müssen. Kommentar 2 „Wir müssen den Patienten den ‚Informed consent‘ ermöglichen“ Univ.-Prof. Dr. med dent. Stefan Wolfart Foto: privat 44 Die klinisch-ethische Falldiskussion

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