Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 108, Nr. 10, 16.5.2018, (1074) Wolfgang Rosenthal wurde am 8. September 1882 in Friedrichshagen bei Berlin als Sohn eines Schuldirektors geboren [Groß et al., 2018; vgl. auch Müller, 1992; Ackermann, 2008]. Er besuchte die Thomasschule in Leipzig, wo er Mitglied des Thomanerchors wurde und 1902 das Abitur ablegte. 1902/03 studierte er ein Semester Jura in München, schloss eine längere Afrikareise an und schrieb sich schließlich im Dezember 1904 in Leipzig für Humanmedizin ein. Im Dezember 1909 bestand er dort das medizinische Staats- examen, wurde im Juli 1910 promoviert und erlangte im Januar 1911 die ärztliche Appro- bation [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Von 1911 bis 1914 durchlief Rosenthal am Chirurgisch-Poliklinischen Institut in Leipzig die Weiterbildung zum Chirurgen. Anschlie- ßend war er bis 1918 im Militärdienst als Chirurg im Reservelazarett für Kiefer- und Gesichtsverletzte in Leipzig tätig, wo er um- fassende spezialchirurgische Kenntnisse er- warb. 1918 habilitierte er sich – ebenfalls in Leipzig – im Fach Chirurgie. Bereits seit den 1920er-Jahren engagierte er sich für die Belange von Patienten mit Lippen-Kiefer- Gaumenspalten [Sonntag/Rosenthal, 1930; Rosenthal, 1935]. Der nächste größere Karriereschritt gelang Rosenthal im März 1928: Er wurde zum außer- planmäßigen, nichtbeamteten Professor für Chirurgie der Leipziger Medizinischen Fa- kultät bestellt; zugleich war er als Chirurg und Orthopäde in Leipzig niedergelassen. 1931 entschied er sich zur Aufnahme des Studiums der Zahnheilkunde, um seine Chancen auf ein Ordinariat im Fach Mund-Kiefer-Gesichts- chirurgie zu verbessern. Um eine Prüfung durch seine Leipziger Kollegen zu umgehen, legte er das Staatsexamen 1933 in Erlangen ab [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Kurz nach der Machtergreifung Hitlers trat Rosenthal in die NSDAP ein (Mai 1933); auch in anderen NS-Organisationen wurde er Mit- glied [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Im „Dritten Reich“ schien sich seine Karriere zu- nächst zügig weiterzuentwickeln: Im April 1936 wurde ihm eine planmäßige außerordentliche Professur für die Leitung der chirurgischen Abteilung der Zahnärztlichen Universitäts- Klinik und -Poliklinik in Hamburg offeriert. Und es gelang ihm, zwei der wichtigsten Funktionen im jungen Fach MKG-Chirurgie zu besetzen: So übernahm er 1936 die Schriftleitung des „Zentralblattes für Zahn-, Mund- und Kiefer- heilkunde“ [Vigna, 2017]; 1937 wurde er zu- dem Vorsitzender der „Gesellschaft für Kiefer- chirurgie“ [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Doch das Jahr 1937 markierte zugleich einen Wendepunkt in seiner Karriere: Die Berufung nach Hamburg kam trotz vielversprechender Verhandlungen nicht zustande. Die „Reichs- stelle für Sippenforschung“ hatte mitgeteilt, dass Rosenthals Großvater Johannes Josef Rosenthal (1820–1878) bis zu seiner Taufe im Jahr 1849 „Volljude“ gewesen sei, wo- durch Wolfgang Rosenthal als „Viertel-Jude“ galt. In der Folge verlor er im August 1937 seine Anstellung an der Universität Leipzig. Auch der Vorsitz der Fachgesellschaft wurde ihm entzogen [Augner, 1991; Müller, 1992; Lambrecht, 2006]. Ende 1937 musste er die Redaktion des Zentralblattes abgeben; ab 1939 findet man von ihm auch als Autor keine Beiträge mehr [Vigna, 2017]. Selbst das von ihm und Erich Sonntag 1930 publizierte „Lehrbuch der Mund- und Kieferchirurgie“ durfte nicht mehr erscheinen [Sonntag/- Rosenthal, 1930]. In Anbetracht seiner Ent- lassung sah sich Rosenthal gezwungen, in Leipzig eine eigene Praxis zu eröffnen [Müller, 1992]. Trotzdem war er fest entschlossen, gegen seine Einordnung als „Viertel-Jude“ vorzugehen. So legte er eine eidesstattliche Erklärung seiner Schwester vor, in der diese versicherte, dass ihr gemeinsamer Vater in Wahrheit einem „Fehltritt“ der Großmutter mit dem „arischen“ Adligen Graf Martin von Schönborn-Köhler entstamme. Später ver- anlassten Rosenthal und seine Tochter sogar erb- und rassekundliche Untersuchungen zu ihrer Abstammung durch das „Kaiser-Wil- helm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ in Berlin. Obwohl die „Reichsstelle für Sippenforschung“ letztlich am 17. Mai 1943 in einem Abstammungs- bescheid feststellte, dass Rosenthal „deut- schen oder artverwandten Blutes“ sei, blieb ihm de facto die Rückkehr an die Universität verwehrt [Müller, 1992]. Immerhin erhielt er ein Angebot als Leiter der Luftrettungsstelle Leipzig-Mitte, das er annahm. Schwerpunkt seiner Tätigkeit wurde jedoch eine kiefer- chirurgische Privatklinik in Thallwitz, die er 1943 gegründet hatte, nachdem seine Praxis in Leipzig zerbombt worden war [Ackermann, 2008; Koch, 2011]. Wegbereiter der Zahnheilkunde – Teil 15 Wolfgang Rosenthal – der prominenteste Kieferchirurg Eine Biografie entlang der Schlagwörter des 20. Jahrhunderts: Kriegslazarett- chirurg, NSDAP-Mitglied, Viertel-Jude, Ariernachweis, Sowjetzone, SED-Mitglied, fehlende Linientreue und „Verdienter Arzt des Volkes“. Als Zahnmediziner war Wolfgang Rosenthal (1882–1971) Pionier in der Gesichtstraumatologie und auf dem Gebiet der Spaltchirurgie – mit systematischer logopädischer und otologischer Begleittherapie. Der QR-Code führt zu den anderen Teilen der Serie „Wegbereiter der Zahnheilkunde“ Quelle: (Porträtsammlung Berliner Hochschullehrer; Historische Sammlungen der Universitäts-Bibliothek, Bilddokumente, ID 10795) 50 Gesellschaft

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