Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 14
zm 108, Nr. 14, 16.7.2018, (1654) Neben diesen vier durchaus gewichtigen Argumenten können noch vier andere, nicht minder stichhaltige Gründe angeführt werden: \ Wer reguliert, schränkt, wie oben aus- geführt, automatisch Freiheit ein. Im vor- liegenden Fall erfolgt das angesprochene Registrierungsverbot über den Kopf der be- treffenden Patienten hinweg – Patienten, die sich ursprünglich nach umfassender Aufklärung bewusst für eine Studienteil- nahme entschieden haben. Ein solches Ver- bot mutet paternalistisch an und ist mit den modernen Geboten des Respekts vor der Selbstbestimmung der Patienten („Patienten- autonomie“) und der „Ermächtigung“ des Patienten zu eigenverantwortlichem Handeln („Patient empowerment“) nicht in Einklang zu bringen. \ Zudem ist es auch fachlich geboten, die Gründe für das „Lost to follow-up“ von Studienteilnehmern zu erfassen. Tatsächlich können solche Daten für die Studienqualität unerlässlich sein und zudemwichtige Sicher- heitshinweise geben. Negativ gewendet: Es kann sich als grobes Versäumnis erweisen, den Gründen für das Ausscheiden des Pa- tienten keine systematische Aufmerksamkeit zu schenken. Ebenso zu dokumentieren wie die Angabe, ob und warum Studienteilneh- mer der Nachbeobachtung nicht mehr zur Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß Foto: privat OÄ Dr. med. dent. Karin Groß Foto: privat Verfügung standen, ist im Übrigen die Erfas- sung von Probanden, die aktiv von sich aus die Teilnahme an der Studie abge- brochen haben („Drop-out“) oder vom Prüfleiter oder dem Auftraggeber von der Studie ausgeschlossen wurden („Investigator- caused discontinuation“ beziehungsweise „Sponsor-initiated discontinuation“). Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkur- rierenden, nicht miteinander zu vereinba- renden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzep- tionen (wie die Tugendethik, die Pflichten- ethik, der Konsequentialismus oder die Für- sorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipien- ethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Über- zeugungen als allgemein gültige ethisch- moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander ab- gewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non-Ma- lefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Ge- rechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik er- möglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamt- beurteilungen und Entscheidungen. Des- halb werden bei klinisch-ethischen Fall- diskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik \ Überdies schränkt das Fehlen derartiger Angaben auch die Publikationschancen der Studie ein. Dies hat nicht nur negative Folgen für die Studienverantwortlichen, die ihre Ergebnisse möglichst hochrangig ver- öffentlicht sehen wollen, und für die Förder- institutionen, die als Gegenleistung für ihre Finanzierung einen adäquaten wissenschaft- lichen Ertrag erhoffen, sondern vor allem für künftige Patienten: Nur Studienergebnisse, die in der Fachöffentlichkeit beziehungsweise in der (Zahn-)Ärzteschaft wahrgenommen und diskutiert werden, werden in die „gute klinische Praxis“ – in die alltägliche Behand- lung auf dem Patientenstuhl – einfließen. \ Damit sind wir beim letzten Argument angelangt: der auf empirische Belege ge- stützten Heilkunde (Evidenzbasierte Medizin). Nur eine hochwertige, gut publizierte und breit rezipierte klinische Untersuchung kann zu einer Verbesserung der Evidenz in dem untersuchten Bereich beitragen. Gerade die Zahnärzteschaft sieht sich vielfach mit den Vorwürfen konfrontiert, einerseits Behand- lungsmaßnahmen durchzuführen, bei denen die Evidenzlage schlecht sei, und anderer- seits insgesamt zu wenig (hochwertige) kli- nische Studien zu initiieren. Umso wichtiger ist es, dass die verfügbaren Studien nach besten Standards durchgeführt werden und einen hohen Evidenzgrad erreichen. 54 Zahnmedizin
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