Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15

zm 108, Nr. 15-16, 16.8.2018, (1720) Kieferorthopädie – Mehr mathematische Stringenz täte doch gut! \ Zum Beitrag „Evidenz in der Kieferorthopädie: RCT-Studien sind ein Standard ohne Gold“, zm 10/2018, S. 23–26. Mit Erstaunen erfüllt mich der Artikel Frau Prof. Rufs, in dem die Validität von randomisierten, kontrollierten Studien in der Kieferorthopädie in Zweifel ge- zogen wird. Ihr ist zwar Recht darin zu geben, dass RCTs ihre spezifischen Schwächen haben, wozu der Hawthorne-Effekt ge- hören kann. Ebenso kann und braucht nicht jede klinische Fra- gestellung mit so einem an- spruchsvollen Studiendesign be- antwortet werden. Im Folgenden schüttet die Autorin jedoch das Kind mit dem Bade aus. So ist Schmerz eine Empfindung, die durch viele psy- chische, soziale und kulturelle Faktoren moduliert wird, so dass hier der Effekt allein der Aufklä- rung über eine Studienteilnahme groß sein kann. In der Kieferor- thopädie ist der einzige durch den Hawthorne-Effekt zu beein- flussende Faktor die Compliance mit selbst einzusetzenden Appa- raten, während die Knochen- zellen, die für die Zahnbewe- gung verantwortlich sind, sich als von solchen Einflüssen unbe- eindruckt erweisen. Darüber hinaus ist gerade in den RCTs zur Behandlung von Klasse- II-Anomalien kein Hinweis auf besonders gute Compliance zu finden 1–3, so dass das von Ruf an- geführte Beispiel aus der Schmerzforschung mit der Reali- tät in der klinischen Kiefer- orthopädie wenig zu tun hat. Gerade im Fall der Studien zu den Klasse-II-Anomalien domi- nierten bis 1995 retrospektive Studien, in die in der Regel nur erfolgreich behandelte Patienten einbezogen werden. Weder Patientenmit ungünstigem Wachstum noch mit schlechter Compliance haben eine Chance, in die Studienpopulation zu ge- langen, weil sie das Behand- lungsziel in der Regel nicht errei- chen, so dass bei so generierten idealen Patientengruppen stattli- che Ergebnisse präsentiert wer- den konnten 4–6 . Diese wurden je- doch nicht als „Die fünfzig schönsten Fälle aus 20 Jahren Uniklinik“, sondern unehrlicher- weise als „Die Effekte der XY-The- rapie“ tituliert, was den tatsächli- chen Behandlungseffekt weit größer zeichnete, als es bei un- selektierten Patientengruppen zu erwarten wäre. Mit genügend selection-bias wurden Verlänge- rungen des Unterkiefers bis in die Größenordnung eines halben Zentimeters angegeben 7 , wäh- rend die in den RCTs gefundenen Effekte langfristig nur zwischen 0 bis 1mm liegen. Erschwerend kommt hinzu, dass in vielen retrospektiven Studien histo- rische Kontrollgruppen herange- zogen werden, deren Daten vor mehreren Generationen aufge- zeichnet wurden. Durch den säkularen Trend des früher ein- setzenden Wachstumsschubs und größerer finaler Körpermaße werden diese Daten jedoch zu- nehmend unbrauchbar, worauf schon vor Jahrzehnten hingewie- sen wurde 8 . Externe Validität von Studien be- deutet aber, dass ihre Ergebnisse die bei den nächsten 100 Patien- ten in unserer Praxis zu erwarten- den Effekte abbilden. Dies ist aus den genannten Gründen erst mit den seit 1995 publizierten RCTs zur Klasse-II-Therapie der Fall, über die inzwischen mehrere systematische Reviews vorliegen. In diesen wurde festgestellt, dass eine klinisch bedeutsame Beein- flussung des Unterkieferwachs- tums mit traditionellen kieferor- thopädischen Apparaten nicht möglich ist 9–11 . Ähnliches war bei der Bewertung der Wirkung eines orthodontischen Brackets (Damon®) zu beobachten. Nachdem zwei retrospektive Studien schnellere Nivellierung, kürzere Behandlungsdauer und weniger Behandlungstermine für das Damon®-Bracket ergeben hatten 12,13 , konnte seine Überle- genheit seitdem in keinem einzi- gen der zahlreichen hierzu später durchgeführten RCTs bestätigt werden. Interessanterweise lässt sich in medizinischen Publikationen ein regelhafter Zusammenhang von Studienmethodik und der gefun- denen Effektstärke nachweisen. In einer Metaanalyse erwiesen sich nach der Mann-Whitney- Statistik für nicht randomisierte Studien um 0.15, für nicht ver- blindete Studien um 0.11 stärke- re Effekte als in RCTs, was klinisch bedeutsame, allein der Methodik geschuldete Unterschiede sind 14 . In einer weiteren Metaanalyse fanden die Autoren einen durch- schnittlichen Nutzen von 52 Pro- zent bei Studien niedriger Quali- tät, jedoch nur 29 Prozent für Studien hoher Qualität 15 . Dabei wird deutlich, dass eine schwä- chere Studienmethodik regelmä- ßig zur Überschätzung der Effekte führt. Warum Frau Ruf vor die- sem Hintergrund so freudig Mei- kles Aussage zitiert, RCTs hätten zum kieferorthopädischen Wis- sensstand nichts beigetragen, bleibt rätselhaft. Vielleicht hängt es mit dutzenden retrospektiven Studien Ihrer Universitätsabtei- lung zur Klasse-II-Therapie zu- sammen, die zweifellos unter den retrospektiven Studien zum Thema zu den Sorgfältigsten und Besten gehören. Es wäre ein Ver- lust, den dort gesammelten Datenschatz zu ignorieren; gleichwohl müssen alle in der Wissenschaft damit leben, dass ihr Lebenswerk durch neue Ent- wicklungen an Bedeutung verlie- ren kann. Mit der vorgelegten Polemik hat Frau Ruf der ohnehin wissenschaftlich schwachen Kie- ferorthopädie keinen guten Dienst erwiesen – immerhin einem Fach, von dem David Sackett, einer der Gründerväter der evidenzbasierten Medizin, 1985 sagte, es sei im Hinblick auf RCTs „unter dem Niveau von Aku- punktur, Hypnose, Homöopa- thie und orthomolekularer The- rapie“, und „auf einer Höhe mit Scientology, Dianetik und Podiatrie“ 16 . Da täte etwas mehr mathematische Stringenz doch ganz gut, meine ich. RCTs haben uns auch in der Kieferorthopädie auf klinische Fragen die zuverläs- sigsten Antworten gegeben und werden der Standard der For- schung sein und bleiben! Dr. Madsen Kieferorthopädie, Mannheim 8 Leserforum

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=