Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15
zm 108, Nr. 15-16, 16.8.2018, (1795) eine reduzierte Lebensqualität, psychische Beschwerden und soziale Behinderungen [Moon S et al., 2012]. Das veränderte Gefühl in der orofazialen Region kann das Sprechen, Essen, Küssen, Rasieren, Schminken, Zähne- putzen und Trinken – in der Tat fast jede soziale Interaktion – beeinträchtigen (Abbil- dung 2) [Ziccardi VB, Zuniga JR, 2007]. Da es sich bei den zahnärztlichen Eingriffen oft um elektive Prozeduren handelt und die Patienten von der Behandlung funktionelle und/oder ästhetische Verbesserungen er- warten, fällt es ihnen schwer, mit solchen Folgen umzugehen [Renton T, Yilmaz Z, 2012], insbesondere in Fällen unzureichen- der präoperativer Aufklärung. Zur genauen Beurteilung dieser Verletzungen reicht eine lediglich mechano-sensorische Evaluation nicht aus. Vielmehr sollten, analog zu den Richtlinien der Weltgesundheitsorgani- sation (World Health Organization, WHO), die Ausprägungen der Nervverletzungen holistisch in Bezug auf Beeinträchtigungen, Aktivitätseinschränkungen und weitere Re- striktionen untersucht werden [Renton T, Yilmaz Z, 2012]. Insgesamt existiert nur eine sehr begrenzte Zahl hochwertiger Studien, die die Aus- wirkungen von Behandlungsverzögerungen sowie die Ergebnisse rein beratender, medi- kamentöser und chirurgischer Therapien bei Verletzungen von peripheren Ästen des N. trigeminus untersuchten. Grundlagen der Therapie Bei der Behandlung traumatischer Verlet- zungen von peripheren Nerven handelt es sich um eine komplexe Herausforderung, die alle Aspekte der inhärenten Behinde- rung berücksichtigen sollte. Erste Priorität hat eine gemeinsam mit dem Patienten er- arbeitete ehrliche Aussage, inwiefern eine dauerhafte Schädigung zu erwarten ist. Damit wird dem Patienten ein realistisches Fundament angeboten, aufgrund dessen er über zukünftige Behandlungen entscheiden kann. Anschließend sollten sowohl die Schmerzeinstellung als auch die Rehabili- tation so schnell wie möglich eingeleitet werden [Renton T, Yilmaz Z, 2012], wobei sich diese an Ursache und Ausmaß, an den Symptomen und selbstverständlich an der Wahl des Patienten orientieren. Im Allgemeinen gilt für Läsionen der humanen peripheren sensorischen Nerven der Goldstandard, den Nerv so schnell wie möglich nach einer Verletzung zu reparieren [Birch R et al., 1991]. So sollten alle ent- standenen Nervschäden innerhalb der ers- ten 24 Stunden postoperativ identifiziert werden. Zu den wichtigsten Management- strategien gehören Beratung und Beruhigung, Medikation (Antiepileptika/Antidepressiva; topische Applikation von fünfprozentigem Lidocain) und Operation (Exploration mit oder ohne Dekompression oder auch direkte Anastomose). \ Beratung und Beruhigung Eine solche Beratung umfasst, dass der vom Patienten konsultierte Arzt nach objektiver Bestätigung der Nervverletzung beim Patienten realistische Erwartungen erzeugt. Insbesondere bei permanentem Schaden sollte Erwähnung finden, dass die Nervfunktion eventuell nie wieder voll- ständig hergestellt werden wird. Dennoch ist auch keine weitere Verschlechterung zu befürchten, und dem Patienten kann beispielsweise eine logopädische oder eine verhaltenstherapeutische Therapie angeraten werden. Fortsetzung auf Seite 84 Abbildung 1: In den Nervus alveolaris inferior überstopftes Wurzelfüllmaterial Foto: aus Kämmerer et al., 2015 Abbildung 2: Sensibilitäts- und Geschmacksdefizit der rechten Zungenseite acht Monate nach rechtsseitiger Leitungsanästhesie des Nervus alveolaris inferior Foto: P. Kämmerer 83
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