Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15

zm 108, Nr. 15-16, 16.8.2018, (1806) Mut zur Lücke Die Lektüre beginnt mit einer Irritation: Auf dem Cover die Illustration einer Eckzahnextrak- tion mit einem antiken Pelikan, daneben der Titel „Mut zur Lücke“. Hmm. Wie soll dieser Ausdruck passen zu einem Buch über Zahnmedizin? Wer lässt da (absichtlich) etwas weg, von dem er hofft, dass er es nicht brauchen wird? Ist die Zahnlücke gemeint, sollen wir jetzt mit Zahnlücke herumlaufen? Ein Pamphlet gegen Implantologie und Kieferorthopädie – Schluss mit Lückenschluss!? Der englische Originaltitel „The Smile Stealers“ und die Illustration legen noch eine andere Spur. Sie verweisen auf die Lücken, die die Zahnbrecher, diese Diebe des Lächelns, in die mittelalterlichen Münder gerissen haben. Eine be- sondere Art (Helden-)Mut gehörte sicherlich dazu, diese oftmals brachiale Prozedur so heroisch zu inszenieren. Oder auch zu er- dulden. Allein, eine souveräne, „mutige“, selbst gewählte Lücke, die hoffentlich nicht auffällt, ist anders. Worum also geht es? Ver- tikal steht da noch „Kunst und Geschichte der Zahnheilkunde“. Der Einband, halb aus rosa Leinen, halb Hardcover, mit den vielen verschieden großen Vierecken mit „Goldinlays“ – man hat sofort das Gefühl, eine kleine Preziose in der Hand zu halten. Doch der englische Untertitel „The Fine and Foul Art of Den- tistry“ ist besser gewählt, viel treffender. Denn der englische Medizinhistoriker Richard Barnett liefert gerade nicht eine chrono- logische Geschichte des Faches, sondern blickt auf die stinkende, faulige und gleichzeitig feine Kunst der Zahnheilkunde. Er erzählt eine Geschichte, die mit Fäulnis, Dreck und Brutalität be- gann und imperfekten Hollywood- lächeln gipfelt. Eine Geschichte über Schönheit und Hässlichkeit, über Hoffnungen und Ängste (der Patienten). Über Meilensteine des Fortschritts auf dem Weg zu moderner Prophylaxe, über Kos- metik, über Maler, Mode und Mundgeruch. Dieser Zugriff erlaubt es ihm, sich bei den verschiedenen Wegmarken, Protagonisten und Anekdoten nach Belieben zu be- dienen – und damit auch wegzu- lassen. Mut zur Lücke. Es ist dann auch sehr vieles da, was funkelt und ekelt in der Geschichte der Zahnheilkunde: Waterloozähne, der Marathon-Mann, Hip-Hop- Grillz, das Lächeln Marylin Mon- roes, die Zahnfee und natürlich auch die Zähne Adolf Hitlers. Kapitel 1 ist ein Parforceritt durch die Frühgeschichte über die Qualen der frühen Zahnheil- kunde mit etruskischen Prothesen und bösartigen Zahnwürmern. Kapitel 2 zeigt, wie durch das Aufkommen von Zucker und Tabak im Mittelalter Karies zur Zahnkrankheit Nummer eins wurde – und zwar zuerst bei den Reichen, weil der Konsum damals noch eine exklusive Sache war. Mit so degenerierten Begleiterscheinungen wie golde- nen Zahnstochern und Mund- spülflakons mit Kinderurin. Kapitel 3 schildert, wie sich Ende des 17. Jahrhunderts (in Paris) in Abgrenzung zu den Zahnreißern die Dentisten als Berufsgruppe selbst erfanden, um die „chirur- gische Leiter“ (der kollegialen Anerkennung) ein wenig hoch- zuklettern. Erste, zarte Schritte hin zu mehr Zahnerhaltung bei weniger Extraktion und die Geburtsstunde der Trias gute Zähne, Schönheit und Erfolg. Ka- pitel 4 widmet sich den falschen Zähnen – zunehmend wurden nun Prothesen als Distinktions- merkmal eingesetzt. In die (sol- venten) Münder wanderten die Zähne toter Soldaten oder das Elfenbein arktischer Walrösser. Der Zahnhandel mit herausgeris- senen Kinderzähnen blühte. Kapitel 5 beschreibt den Sieges- zug der Anästhesie im 19. Jahr- hundert, der die Ära der mo- dernen Zahnmedizin einleitete: weniger Schmerzen, bessere und neue Instrumente (auch in Schildpattoptik), mehr Fachkom- petenz, mehr Wissen, mehr Aner- kennung. Doch all diese Entwick- lungen verliefen keineswegs linear, sondern offenbaren „die Spannungen zwischen der thea- tralischen Vergangenheit und der technologischen Zukunft der Zahnmedizin“. Kapitel 6 be- schreibt, wie mit den Mitteln der forensischen Odontologie Mas- senmörder überführt oder Adolf Hitler und „Todesengel“ Josef Mengele identifiziert wurden. Im abschließenden Kapitel 7 kommt Barnett zur für ihn potentesten Erfindung der Zahnmedizin: die „perlweiße Perfektion“ des strah- lenden Hollywoodlächelns. Kurz erwähnt er, welche Entwicklun- gen dazu beitrugen, dass sich die kulturelle und ästhetische Einstellung zu Mund und Zähnen änderte. Und dann spürt man es auch – ganz deutlich. Die Idee seines Buchs, so üppig bebildert. Was ist das nur für eine wunderbare, gruselige, abscheuliche, schmerz- volle, unglaubliche Geschichte. mb Richard Barnett: Mut zur Lücke. Kunst und Geschichte der Zahnheilkunde. (Originaltitel: The Smile Stealers. The Fine and Foul Art of Dentistry) DuMont Buchverlag, 2018. ISBN: 978-3-8321-9937-1 34 Euro 94 Rezensionen

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