Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 18

zm 108, Nr. 18, 16.9.2018, (2122) Der betroffene Molar von D. carinthiacus zeigt Merkmale schwerer Karies: (1) Kavita- tion mit steilen Wänden und glatter Ober- fläche; (2) reparatives Dentin am Dach der Pulpakammer; (3) sklerotisches Dentin unterhalb der Kavitation; (4) Verbindung mit Zahnstein und (5) Einseitige Nutzung der gesunden rechten Zahnreihe. „Dieser Befund war für uns sehr überraschend, da das Entstehen des Krankheitsbildes Karies bisher stets mit der Erfindung des Ackerbaus – der Neolithischen Revolution – vor etwa zehntausend Jahren in Zusammenhang ge- bracht wurde. Seit dieser Zeit wurde mehr gekochte Stärke verzehrt“, erklärt Prof. Madelaine Böhme, Leiterin der Studie. Die Zähne waren 1953 in Kärnten, Österreich, geborgen worden. Im Unterschied zur archäologisch häufig belegten Zahnfäule bei frühen Bauern ist die Karies bei Dryopithecus carinthiacus auf hohen Zuckerkonsum zurückzuführen. Fossile Pollen von Bäumen, Sträuchern und Lianen, die sich in den Kärntner Ablagerun- gen am Fundort des 12,5 Millionen Jahre alten Unterkiefers fanden, scheinen diese These zu belegen: Die Forscher stießen auf mindestens neun Arten, deren Früchte stark zuckerhaltig sind – wie Wein, Maulbeere, Erdbeerbaum, Esskastanie, Ölweide sowie Kirsche und Pflaume. Außerdem fanden sie 46 honigtragende Pflanzen, wodurch Honig als zusätzlicher Zuckerlieferant infrage kam. Gemäß ihrer Studie war Zucker von März bis Dezember im Miozän in der Landschaft Kärntens verfügbar. Aufgrund der kurzen Tageslänge im Januar und im Februar gab es allerdings trotz nahezu tropischer Tempe- raturen in den nördlichen Mittelbreiten im Spätwinter keinen Blattaustrieb. Um diese Hungerperiode zu überstehen, mussten unsere Vorfahren Fettreserven anlegen. Menschenaffen in Europa aßen jede Menge Süßes Dass europäische Menschenaffen eine sub- stanzielle Fettreserve besaßen, belegt die Untersuchung des bisher einzigen komplet- ten Skeletts eines Menschenaffen aus Europa: dem acht Millionen Jahre alten Oreopithecus bamboli aus der Toskana. In seinem bis heute erhaltenen Weichgewebe fanden die Forscher dicht gepackte Fett- zellen, die in Größe und Form an weißes Fettgewebe heutiger Menschen erinnern. „Viele klinische Studien der Vergangenheit haben gezeigt, dass ein erhöhter Harnsäure- gehalt des Blutes zu erhöhtem Blutdruck führt“, sagt Böhme. Gemäß der Uricase- Theorie könnte neben den Fettreserven ein stabil hoher Blutdruck während der Hunger- phasen ein wichtiger selektiver Vorteil der Menschenaffen imMiozän Europas gewesen sein. Denn diese Voraussetzungen erlauben körperliche Aktivität auch bei Nahrungs- knappheit. Früher ein Vorteil – heute ein Handicap „Eine vor Millionen von Jahren aufgetretene Mutation war maßgeblich verantwortlich dafür, dass frühe Menschenaffen Eurasien besiedeln und eine enorme Artenvielfalt hervorbringen konnten“, resümiert Böhme. „Wir tragen noch heute ihr Erbe in uns. Dieser Vorteil ist jedoch in einer Welt industriell gefertigter Nahrungsmittel in ein Handicap umgeschlagen.“ ck/pm Literatur : Fuss, J., Uhlig, G., Böhme, M.: Earliest evidence of caries lesion in hominids reveal sugar-rich diet for a Middle Miocene dryopithecine from Europe“. PLOS ONE Neuer Archäologenfund Karies gab es schon vor 12,5 Millionen Jahren An 12,5 Millionen Jahre alten Zähnen des Dryopithecus carinthiacus, des ältesten Vertreters der afrikanischen Menschenaffen und des Menschen, fanden Tübinger und Dresdener Forscher Karies im fortgeschrittenen Stadium. Der Molar von D. carinthiacus (LMK-Pal 5508) zeigt Merkmale einer fortgeschrittenen Primär- karies und weist auf eine häufige Aufnahme stark kariogener, zuckerreicher Früchte hin. Foto: 2018 Fuss et al. 110 Gesellschaft

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