Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19

zm 108, Nr. 19, 1.10.2018, (2181) werden müssen. Allerdings wird sich immer wieder aus der Komplexität dieser Zusam- menhänge hinsichtlich des Entscheids zum oralchirurgischen therapeutischen Vorgehen ergeben, dass das behandlungsbedingte Risiko nicht vollständig abschätzbar bleibt. Darüber hinaus wird die medizinische Be- deutung zahnmedizinischer Befunde durch die Wechselwirkung von Erkrankungen im Zahn-, Mund- und Kieferbereich mit dem Gesamtorganismus zunehmen. Die aktuellen Forschungsergebnisse zu Erkrankungen des Gesamtorganismus im Zusammenhang mit Parodontalerkrankungen sind erste Weg- weiser [Deschner, Haak et al., 2011; Jepsen, Kebschull et al., 2011; Papageorgiou, Rei- chert et al., 2015; Stein, Machulla et al., 2016; Papageorgiou, Hagner et al., 2017]. Multimorbidität, Komorbidität, chronische Erkrankungen Der Begriff der Multimorbidität ist bislang nicht einheitlich definiert: Multimorbidität wird als Nebeneinanderbestehen von multi- plen chronischen oder akuten Erkrankungen und medizinischen Besonderheiten bei einem Patienten determiniert [van den Akker, Bun- tinx et al., 1996], aber auch als Vorliegen von zwei oder mehr chronischen medizi- nischen Besonderheiten bei einer Person präzisiert [van den Akker, Buntinx et al., 1998], ergänzt um den Passus, dass dabei eine Erkrankung nicht notwendigerweise eine größere Bedeutung gegenüber der be- ziehungsweise den anderen Erkrankungen hat [Boyd und Fortin, 2010]. Als Multimor- bidität wird auch das Bestehen chronischer Mehrfacherkrankungen bezeichnet [Wolff, Starfield et al., 2002; Hung, Ross et al., 2011; Naessens, Stroebel et al., 2011]. Das European General Practice Research Network (EGPRN) erstellte eine englische Definition von Multimorbidität in der Primär- versorgung auf der Basis der verfügbaren Li- teratur. Die Arbeitsgruppe identifizierte 416 Dokumente, wählte 68 Abstracts aus, schloss 54 Artikel ein und fand 132 Definitionen mit 1.632 verschiedenen Kriterien [Le Reste, Nabbe et al., 2013]. In Phase 2 dieser Studie erfolgte die Übersetzung und Validierung der neu formulierten Definition von Multi- morbidität in die einzelnen Landessprachen. Danach wird Multimorbidität in der deut- schen Übersetzung charakterisiert durch das Bestehen einer chronischen Erkrankung mit zumindest einer weiteren Erkrankung (akut oder chronisch), einem bio-psycho-sozialen Faktor (assoziiert oder nicht) oder einem somatischen Faktor. Hierbei können die Auswirkungen der Multimorbidität durch jeglichen bio-psycho-sozialen Faktor, indivi- duelle Risikofaktoren, das soziale Netz, die Krankheitslast, die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie persönliche Bewältigungsstrategien beeinflusst werden. Chronische Erkrankungen werden definiert als „lang andauernde Krankheiten, die nicht vollständig geheilt werden können und eine andauernde oder wiederkehrend erhöhte Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems nach sich ziehen“ [Sass, Wurm et al., 2010]. Demgegenüber wird die Komorbidität als das Auftreten zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer bestimmten Grunderkrankung definiert. Dabei stellt die Zusatzerkrankung ein eigenes, diagnostisch abgrenzbares Krankheitsbild dar, das nicht selten kausal mit der Grunderkrankung zusammenhängt [Scheidt-Nave, Richter et al., 2010b]. Dieser Zusammenhang mit zusätzlicher Berück- sichtigung des Alters der Patienten wird deutlich in der Definition von Sass und Ko- autoren [Sass, Wurm et al., 2010], die hinzu- fügt, dass das gleichzeitige Auftreten meh- rerer Erkrankungen ein Charakteristikum der gesundheitlichen Lage älterer Patienten sei, die im Alter vorliegenden Erkrankungen häufig chronisch und irreversibel seien und nicht unabhängig voneinander bestehen würden. Die sich daraus ergebenden Krank- heitsfolgen, Funktionseinschränkungen und erforderlichen Arzneimitteltherapien griffen ineinander, so dass daraus das Risiko resultiere, die Fehlfunktionen nicht mehr kompensieren zu können. Dies schränke die unabhängige Lebensführung, Selbstbestim- mung und Lebensqualität ein [Sass, Wurm et al., 2010]. Die Geriatrie-typische Multi- morbidität ist eine Kombination von Multi- morbidität und Geriatrie-typischen Befunden beziehungsweise Sachverhalten. Es bestehen multiple strukturelle oder funktionelle Schäden bei mindestens zwei behandlungs- bedürftigen Erkrankungen [WHO, 1980]. Die Prävalenz der Multimorbidität wird je nach Studie sehr unterschiedlich angegeben [Diederichs, Wellmann et al., 2012; Sieben- hühner, 2012]. Vier bis sieben Diagnosen führen häufiger zur Unterschätzung der Prä- valenz, bei zwölf oder mehr Diagnosen fin- den sich bei der Einschätzung der Prävalenz keine nennenswerten Unterschiede mehr [Fortin, Stewart et al., 2012]. Untersuchungen zur länderspezifischen Prä- valenz der Multimorbidität in den Jahren 2010 und 2011 zeigten Deutschland mit 29,7 Prozent auf Rang neun im europäischen Ver- gleich. Ungarn hatte die höchste Prävalenz mit 46,5 Prozent, die Niederlande die ge- ringste mit 18,8 Prozent [Moreau-Gruet, 2013]. Bei 65 Jahre alten und älteren multi- morbiden Patienten zeigten sich Hypertonie (65,4 Prozent), Störungen des Fettstoff- wechsels (42,9 Prozent), chronische Rücken- schmerzen (41,2 Prozent), Gelenkarthrose (29,5 Prozent), Diabetes mellitus (28,5 Pro- zent) und koronare Herzkrankheiten (27,5 Prozent) als die sechs chronischen Erkran- kungen mit der höchsten Prävalenz in der multimorbiden Population [Van den Busche, Schön et al., 2013]. Bluthochdruck war auch die häufigste chronische Erkrankung innerhalb der zehn häufigsten Triaden, und zwar im Zusammenhang mit Fettstoff- wechselstörungen, Herz- und Kreislauf- erkrankungen, Diabetes mellitus sowie chronischen Rückenschmerzen und Gelenk- arthrose [Van den Busche, Schön et al., 2013]. Unter Ausklammern der immer wieder auftretenden Erkrankungen Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und chronische Rückenschmerzen sind als häufigste Kom- binationen noch diejenigen aus Diabetes mellitus, Gelenkarthrose, Adipositas, Herz- und Kreislauferkrankungen und Hypo-/ Hyperthyreose zu berücksichtigen [Vogeli, Shields et al., 2007]. Die Anzahl berichteter Erkrankungen nimmt mit steigendem Alter zu: 35,3 Prozent der 40- bis 45-Jährigen sind nicht erkrankt, während 18 Prozent der 58- bis 63-Jährigen und nur noch 6,6 Prozent der 76- bis 81-Jährigen über keine Erkrankungen be- 25

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