Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19

zm 108, Nr. 19, 1.10.2018, (2182) richten. Andererseits geben 1,9 Prozent der 40- bis 45-Jährigen an, an fünf oder mehr Erkrankungen zu leiden. Bei den 76- bis 81-Jährigen sind dies 25,1 Prozent. In der Gruppe der an zwei bis vier Krankheiten lei- denden Menschen beträgt die Spannweite der Prävalenz zwischen 34,6 Prozent (40- bis 45-Jährige) und 56,7 Prozent (76- bis 81-Jährige) [Schmacke, 2012; Burger, 2012]. In der Altersklasse der 20- bis 39-Jährigen liegen zwei oder mehr chronische oder akute Erkrankungen und medizinische Besonder- heiten mit einem Anteil von 4,4 Prozent vor [Taylor, Price et al., 2010]. Multimorbidität ist nicht mit älteren Men- schen assoziiert, denn sie kommt auch im Kindes- und Jugendalter vor. So beträgt die Prävalenz von Multimorbidität bei 10- bis 17-Jährigen 10,2 Prozent [Newacheck, McManus et al., 1991]. Der Multimorbidität liegt aufgrund der hohen Variationsbreite vieler Erkrankungs- kombinationen auch eine hohe Anzahl von Dreier- oder Fünferkombinationen zugrunde. So können beispielsweise aus 46 verschie- denen Grunderkrankungen 15.180 Dreier- und 1.370.754 Fünferkombinationen resul- tieren [Van den Busche, Schön et al., 2013], so dass insbesondere die Wechselbeziehungen zwischen diesen Erkrankungen sowie die Wechselwirkungen der verschiedenartigen Medikationen im Zusammenhang mit der individuellen Reaktionslage und nicht zuletzt auch der sozialen Situation des Patienten höchste Aufmerksamkeit bei der Planung, Durchführung und Nachsorge im Zusam- menhang mit oralchirurgischen Eingriffen erfordern. Allerdings kann das oralchirurgische Vor- gehen auch ohne Begleiterkrankungen rein durch physiologisch bedingte Altersein- schränkungen insbesondere zum Beispiel hinsichtlich der Möglichkeiten der Patienten- lagerung und allgemeinen Belastbarkeit beeinflusst sein. Der hier zu diskutierende Status der „Gebrechlichkeit“ (engl.: frailty) wird definiert, wenn mindestens drei Ver- änderungen vorliegen, zu denen vorrangig die verminderte körperliche Belastbarkeit, das Nachlassen der Muskelkraft (Sarko- penie), das Nachlassen der Gehgeschwindigkeit, Gewichtsverlust, rasche Erschöpfung, Gangunsicherheit und Gleichgewichts- störungen zählen [Ahmed, Mandel et al., 2007]. Andererseits ist aber positiv anzumerken, dass laut einer Statistik zur „Gesundheit im Alter“ aus dem Jahr 2015 ein Leben ohne wesentliche Beschwerden in Gesundheit immerhin für Frauen und Männer zwischen 65 und 70 Jahren zu etwa 82,6 Prozent be- ziehungsweise 82,3 Prozent in Deutschland gegeben ist [Statistisches Bundesamt, 2015]. Polypharmazie Auch für den Begriff der Polypharmazie (Sy- nonyme: Polymedikation, Multimedikation, Mehrfachverordnung) gibt es international keine einheitliche Definition [Marengoni und Onder, 2015]. Im Allgemeinen wird darunter die kumulative Verordnung von fünf oder mehr Medikamenten pro Quartal verstanden [Holt, Schmiedl et al., 2010]. Zu beachten ist in diesem Kontext außerdem die Möglichkeit des Erwerbs von rezept- freien Medikamenten, den sogenannten „Over-the-counter“ (OTC)-Medikamenten. Die negative Bewertung von verschreibungs- pflichtigen und rezeptfreien Medikamenten wegen ihres ungünstigen Nutzen-Risiko- Verhältnisses und ihrer vergleichsweise hohen Schadwirkung bei älteren Menschen beschreibt der Terminus „potenziell inadä- quate Medikamente“ (PIM) [Neuner-Jehle, 2013]. PIM-Medikamente werden in der PRISCUS- [Beers und Ouslander, 1989] und in der FORTA-Liste [Wehling, 2009] aufge- führt. Die Prävalenz für Polypharmazie be- trägt in Deutschland etwa 42 Prozent bei über 65-Jährigen mit steigender Tendenz [Moßhammer, Haumann et al., 2016]. Poly- pharmazie ergibt sich aus dem zur Behand- lung mehrerer gleichzeitig bestehender Er- krankungen erforderlichen Einsatz diverser Medikamente. Zudem kann sie aus der unzureichenden Wirkung eines an sich adäquaten und indizierten Medikaments resultieren, das jedoch keine ausreichende Wirkung aufweist. Der angestrebte Therapie- effekt erfordert somit die Verabreichung eines weiteren oder mehrerer Medikamente mit ähnlichem Wirkungsspektrum. Poly- pharmazie kann auch entstehen, wenn durch die unerwünschten Wirkungen eines Medikaments die Verordnung eines oder einer Reihe weiterer Medikamente erforder- lich wird (typische Beispiele sind die Ver- schreibungen verschiedener Medikamente bei Bluthochdruck, Asthma bronchiale, chronischer obstruktiver Lungenerkrankung, Morbus Parkinson). Die Problematik sei am Beispiel einer multimorbiden Patientin (79 Jahre alt, Os- teoporose, Osteoarthritis, Diabetes Typ 2, Hypertonie, COPD) illustriert: µ Der Behandlungsplan sieht den Einsatz von 12 verschiedenen Medikamenten vor, deren Einnahme zwischen 07.00 und 23.00 Uhr zu fünf verschiedenen Zeitpunkten in 19 Einzel- dosen erfolgen soll. Hierbei sind zudem 20 verschiedene evidenzbasierte Empfeh- lungen zur Ernährung und Lebensführung zu beachten. Außerdem verursachen die einzunehmenden Arzneimittel – auch im Zusammenhang mit der Ernährung – 9 verschiedene Interaktionen [Boyd, Reider et al., 2010]. Komplikationen im Rahmen von Polyphar- mazie ergeben sich aus einer unzureichen- den Therapieadhärenz sowie erkrankungs- oder therapiebedingten Veränderungen der Resorption und der Distribution sowie des Metabolismus und der Elimination. Einnahmefehler stehen häufig mit alters- typischen Störungen im Zusammenhang (zum Beispiel Beeinträchtigungen des Visus und der Feinmotorik, Depression, kognitive Störungen, Demenz). Veränderungen der Rezeptordichte oder Rezeptorempfindlich- keit können zu einem herabgesetzten oder gesteigerten Ansprechen des Zielorgans führen (zum Beispiel paradoxe Reaktion auf Benzodiazepine). Zudem können alters- physiologisch bedingte Einschränkungen der Kompensationsmöglichkeiten bestehen – der Einsatz von Antihypertensiva kann bei- spielsweise zu einem Hypotonierisiko füh- ren. Der größte altersassoziierte pharmako- kinetische Einfluss besteht in einer reduzier- ten renalen Ausscheidung (Verringerung der glomerulären Filtrationsrate). Bei älteren 26 Herausforderung Multimorbidität

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