Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19
zm 108, Nr. 19, 1.10.2018, (2186) 2,2 Millionen Verordnungen (23,8 Millio- nen Tagesdosen) zu den im Rahmen zahn- ärztlicher Eingriffe am häufigsten verord- neten Medikamenten [Halling, 2016]. Bei den Antibiotikaverordnungen haben Zahn- mediziner einen Anteil von etwa 8,8 Prozent und verordnen zunehmend Amoxicillin (35,6 Prozent in 2012 gegenüber 45,8 Prozent in 2015), während der Anteil von Clindamycin-Verordnungen in 2015 auf 31,7 Prozent gesunken ist. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich aber noch immer ungewöhnlich hoch [Halling, Neff et al., 2017]. Bei den ebenfalls im zahnärztlich-chirurgi- schen Bereich zur Anwendung kommenden Lokalanästhetika – zumeist mit vasokonstrik- torisch wirkenden Zusätzen eingesetzt – sind neben den durch das Vorliegen von Allgemeinerkrankungen bedingten relativen Risiken (höhergradiger AV-Block, schwere kardiale Überleitungs- und Herzrhythmus- störungen, Gerinnungsstörungen, Leber- und Niereninsuffizienz, Hyperthyreose u. a.) und den absoluten Kontraindikationen (unter anderem kardiale Dekompensation, fehlende Compliance durch Behinderung, Alter, Demenz) insbesondere die Wirkungs- verstärkung von Adrenalin hervorrufenden Arzneimittelinteraktionen mit Digoxin, Digi- toxin, trizyklischen Antidepressiva, MAO- Hemmern, Antiparkinsonmitteln, Guanethidin und ß-Blockern zu beachten [Daubländer und Kämmerer, 2011]. Bei Adrenalinzusätzen von 1:100.000 und weniger ist bei Einhalten der Höchstdosen der Lokalanästhetika diese Wirkungsverstärkung jedoch eher fraglich [Daubländer, 2010]. Wichtiger erscheint, die altersbedingte Einschränkung der Stoff- wechselfunktionen zu berücksichtigen, wes- halb im Alter ab 60 bis 65 Jahren eine Re- duktion der Höchstdosen empfohlen wird [Daubländer und Kämmerer, 2012]. Dazu kommt bei abnehmendem Körpergewicht unter 70 kg die grundsätzliche Berücksichti- gung der gewichtsbezogenen Berechnung der individuellen Höchstdosen. Therapiestrategien im Kon- text von Multimorbidität und zahnärztlicher Chirurgie Die physiologischen Bedingungen bei älteren Patienten sind sehr unterschiedlich, da es sich um eine sehr heterogene Patienten- gruppe handelt [Nitschke, 2012]. Sie sind unter anderem durch eine Abnahme der Nervenleitgeschwindigkeit, der Muskelkraft, des Herzminutenvolumens, der Vitalkapazi- tät, des Atemzeitvolumens, der Sauerstoff- aufnahme, der glomerulären Filtrationsrate und des renalen Plasmaflusses charakterisiert [Nikolaus, 2000]. Damit einhergehende ver- minderte Funktionsreserven, Gebrechlichkeit, Multimorbidität, gegebenenfalls atypische Symptomatik, aber auch verminderte psy- chische Anpassungsfähigkeit und soziale Isolierung werden zu bestimmenden Gesichts- punkten, die bei der Indikationsstellung für zahnärztlich-chirurgische Eingriffe bei einem alten Menschen berücksichtigt werden müssen [Holt, Schmiedl et al., 2010; By the American Geriatrics Society Beers Criteria Update Expert, 2015; Lohse und Müller- Oerlinghausen, 2016]. Abgesehen von der je nach Ausprägung der gesundheitlichen und psychosozialen Einschränkungen unterschiedlichen Belastbarkeit kann eine weitere Kategorisierung der Patienten für die Therapieplanung und Entscheidung, in welcher Umgebung die Behandlung statt- finden sollte, hilfreich sein. Manchen Patien- ten fehlt die Kooperationsfähigkeit für den geplanten Eingriff und bei Risikopatienten besteht aufgrund von begleitenden Allge- meinerkrankungen ein erhöhtes Risiko für einen lebensbedrohlichen Zwischenfall während eines operativen Eingriffs. Aus den beiden genannten Kategorien ergeben sich wiederum Risiken für den Arzt beziehungs- weise Zahnarzt sowie für unbeteiligte Dritte, aber auch Risiken für den Patienten mit schwerwiegenden Allgemeinerkrankungen [Rixecker, Kleemann et al., 1985]. Systemische Erkrankungen mit Auswirkun- gen auf die oralen und perioralen Gewebe sowie die eng damit im Zusammenhang stehende Einschränkung der Lebensqualität wie Hyposalivation beziehungsweise Xeros- tomie (zum Beispiel bei Morbus Sjögren oder als unerwünschte Arzneimittelwirkung), Einschränkung der Mundöffnung und Kau- funktion (zum Beispiel bei rheumatischen Erkrankungen des Kiefergelenks, bei syste- mischer Sklerose, Fibromyalgie), Schmerzen, Missempfindungen, entzündlichen – teils aphthoiden – Läsionen der Mundschleim- haut (zum Beispiel bei systemischem Lupus erythematodes, Wegenerscher Granuloma- tose, Fibromyalgie, Riesenzellarteriitis) oder auch Einschränkungen der Immunabwehr mit gesteigertem Infektions- oder Blutungs- risiko (zum Beispiel beim systemischen Lu- pus erythematodes durch Leukozytopenie, Lymphozytopenie oder Thrombozytopenie) können oft die Verläufe von Wundheilungs- Abbildung 1: Panoramaschichtaufnahme einer 72-jährigen multimorbiden Patientin Foto: Joachim Jackowski 30 Herausforderung Multimorbidität
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