Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19
zm 108, Nr. 19, 1.10.2018, (2244) zeit geht man davon aus, dass etwa 21 Pro- zent der Bevölkerung aus über 65-Jährigen bestehen [Pötsch und Rößger, 2015]. Erhe- bungen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2015 prognostizieren, dass bis zum Jahr 2060 jeder dritte Einwohner in Deutsch- land über 65 Jahre alt sein wird und es doppelt so viele 70-Jährige geben wird, wie Kinder geboren werden [Pötsch und Rößger, 2015]. Und die Zahl der über 80-Jährigen im Jahr 2060 etwa neun Millionen betragen. Dies ist doppelt so viel wie heute und wird jeden achten Einwohner in Deutschland b etreffen [Pötsch und Rößger, 2015]. Die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2060 wird für Männer etwa 84,8 Jahre und für Frauen rund 88,8 Jahre betragen, ein Umstand, der unter anderem der zuneh- mend besseren medizinischen Versorgung zu verdanken ist [Pötsch und Rößger, 2015]. Diese altersdemografische Entwicklung geht mit einer Zunahme geriatrischer Krankheits- bilder einher. Dazu zählen unter anderem Immobilität, Harninkontinenz, kardiovas- kuläre Erkrankungen (wie Hypertonie, Herz- insuffizienz), Demenz, kognitive Einschrän- kungen, Diabetes mellitus, Osteoporose und mehr [Clerencia-Sierra et al., 2015]. Komplikationen und Notfälle im Rahmen zahnärztlicher Behandlungen bei älteren und multimorbiden Patienten stellen ein häufig unterschätztes Risiko im ambulanten und im stationären Bereich dar. Im vorliegenden Fall konnte durch die unmittelbare notfall- medizinische Behandlung der Patientin ein möglicher letaler Ausgang verhindert wer- den. Infolgedessen sollte bei älteren Patienten vor geplanten zahnärztlichen Behandlungen ein individuelles Risikoprofil erstellt werden. Ein wichtiges Instrument ist die Anamnese. Diese liefert hilfreiche Informationen über die Grund- und Vorerkrankungen des Patienten, die oft eine erste, gute Einschätzung des in- dividuellen Risikoprofils erlauben. Die Medi- kamentenanamnese ermöglicht ergänzend die Einschätzung weiterer Risikoprofile und damit möglicher Komplikationen. Blut- drucksenkende Medikamente (wie Prilate, Sartane) können beispielsweise auf das Risiko einer hypertensiven Krise hinweisen. Die Einnahme blutverdünnender Medikamente (Phenprocumon und NOAKs – neue orale Antikoagulantien) kann neben dem Risiko einer Nachblutung mit einem gesteigerten kardiovaskulären Risiko assoziiert sein. Ergänzend dazu sollte Rücksprache mit dem betreuenden Hausarzt beziehungsweise mit weiteren behandelnden Kollegen (Internis- ten, Geriater, Neurologen) erfolgen. Aktuelle Untersuchungsergebnisse (wie Labor, EKG, Herz-Echokardiografie) können weitere wichtige Informationen liefern. Stets beach- tet werden sollte, dass bei älteren Patienten auch ohne bekannte Vorerkrankungen im- mer ein erhöhtes Risiko für Komplikationen und Notfälle bestehen kann. In einem weiteren Schritt sind die geplanten Behandlungsmaßnahmen, deren Art und Umfang sowie die Indikation kritisch zu prü- fen. Mit zunehmendem Komplikationsrisiko sollte zum Beispiel die Indikation zu chirur- gischen Eingriffen zunehmend streng gestellt und immer wieder kritisch im Sinne einer Individualentscheidung geprüft werden. Abschließend muss unter Betrachtung des individuellen Risikoprofils sowie der Art und des Umfangs der geplanten therapeutischen Maßnahmen entschieden werden, wo und unter welchen Rahmenbedingungen die Behandlung durchgeführt werden soll. Falls diese aufgrund der Art oder des Umfangs sowie des Risikoprofils in der eigenen Praxis nicht möglich ist, kann zum Beispiel die Überweisung zu einem niedergelassenen Kollegen mit der Option eines fachärztlich betreuten anästhesiologischen Standby sinnvoll sein. Je nach Art des Eingriffs bezie- hungsweise des Risikoprofils besteht eben- falls die Möglichkeit der Überweisung zu niedergelassenen fachzahnärztlich bezie- hungsweise fachärztlich tätigen Kollegen, möglicherweise ebenfalls mit der Möglich- keit des anästhesiologischen Backups. Even- tuell kann auch eine Behandlung an einer Klinik erforderlich sein, die neben der statio- nären eine umfassende notfall- und inten- sivmedizinische Betreuung gewährleistet. Die Frage, wann ältere und multimorbide Patienten an einer Klinik behandelt werden sollten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Hier könnten zukünftig Algorithmen ent- wickelt werden, die auf Basis der bekannten Vorerkrankungen, des Allgemeinzustands und von Art und Umfang der geplanten Behand- lungsmaßnahmen eine Entscheidungshilfe geben können. Dem zunehmenden Bedarf an entsprechenden stationären, zahnärztlichen Behandlungsmöglichkeiten gilt es zukünftig Rechnung zu tragen. Hinsichtlich des Managements von Not- fällen müssen im ambulanten und im sta- tionären Bereich die BLS(Basic Life Support)- Maßnahmen und der Umgang mit dem Notfallkoffer/-set von allen Mitarbeitern sicher beherrscht werden. Diese BLS-Maßnahmen können im stationären Umfeld durch ALS(Advanced Life Support)-Maßnahmen ergänzt werden, die die Mortalität und den Abbildung 3: a: CT-Abdomen axial, b: CT-Abdomen koronar: freie Luft im Abdomen mit Verlagerung der intraabdominellen Organe nach dorsal (roter Pfeil = freie Luft, blauer Stern = nach dorsal verla- gerte intraabdominelle Organe) 88 Zahnmedizin
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