Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22

zm 108, Nr. 22, 16.11.2018, (2648) Familie F., ein Akademikerpaar mit zwei Kindern im Teenager-Alter und einem sechsjährigen Sohn, zieht in eine deutsche Großstadt und begibt sich in der Zahnarzt- praxis Dr. M. in (familien-)zahnärztliche Be- treuung. Lediglich der sechsjährige Sohn A. wird von der in der Stadt ansässigen „Kinder- zahnarztpraxis“ Dr. K. betreut, da die etwas ängstliche und fast schon überfürsorgliche Mutter bei allem Vertrauen zur Hauszahn- ärztin ihren Sohn dennoch bei diesem Spe- zialisten in qualifizierteren Händen sieht. Eines Tages kommt Frau F. nun aufgeregt und nervös mit der Bitte um eine Zweitmeinung zu Frau Dr. M.: Ihr Sohn solle in der Kinderzahnarztpraxis eine Cerec-Krone am kariösen Zahn 84 er- halten – und dies in Narkose. Frau Dr. M. untersucht den Jungen, ein alters- entsprechend entwickeltes, aufge- wecktes und kooperationsbereites Kind. Entgegen der bestehenden Planung ist sie der Auffassung, dass der kariöse Defekt nicht zwingend mit einer Krone ver- sorgt werden muss, sondern durchaus noch mit einer (wenn auch ausgedehnteren und in der Kinderbehandlung deutlich zeitauf- wendigeren) Füllung zu therapieren ist. Dr. M. erläutert das der Mutter, die sie bittet, über die diskrepanten Behandlungs- alternativen mit Kinderzahnarzt Dr. K. zu sprechen. In einem ausnehmend kollegialen Telefonat schildert Dr. M. ihre fachlichen Bedenken und die Vorbehalte der Mutter, während Dr. K. seinen fachlichen wie auch wirtschaftlichen Standpunkt und damit auch seine Motivation für die Indikationsstellung deutlich macht. So erfordere die Kinder- behandlung sehr viel Zeit: Zum einen müsse in der „Anbahnung“ das notwendige Vertrauen zum Kind-Patienten aufgebaut werden; zum anderen dürften die kleinen Patienten mit einer wie bei den meisten Er- wachsenen üblichen zügigen Arbeitsweise nicht überfordert werden. Eine wirtschaft- liche Praxisführung sei daher bei seiner Spezialisierung nicht einfach und sowohl die großzügige Indikationsstellung für eine Cerec-Krone als auch die Anwendung der Narkose seien das Ergebnis einer „ausge- wogenen“ Interessenabwägung: In Narkose ließen sich beide Prozesse, also die Vertrauensbildung wie auch die eigentliche Behandlung, abkürzen und die Patienten würden auch weniger traumatisiert, weil sie von der eigentlichen Behandlung nichts mitbekämen. Mit der Indikationsstellung „Krone“ werde darüber hinaus der Gefahr eines Füllungsverlusts und einer Sekundär- karies und damit auch einer möglicherweise notwendigen Wiederholung der Behandlung vorgebeugt. Ferner sei die Behandlung auch für den behandelnden Zahnarzt entspannter und weniger anstrengend. Wie ist diese Argumentation zu beurteilen? Ist es legitim, das Behandlungskonzept nicht nur an fachlichen Standards, sondern auch an den wirtschaftlichen Interessen einer (spezialisierten) Praxis auszurichten? Welcher Stellenwert ist bei der Frage nach der Narkose etwa dem „Stressfaktor“ des Zahnarztes beizumessen? Oder wird möglicherweise eine normale zahnärztliche Maßnahme durch die Narkose für den kleinen Patienten in der Bedeutung auf ein Niveau gehoben, das letztlich per se kontraproduktiv ist? \ Dr. Katrin Pothe Darmstädter Str. 50, 63303 Dreieich info@dr-pothe.de Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam vollmuth@ak-ethik.de Die klinisch-ethische Falldiskussion Narkose in der Kinderbehandlung: Sedierung zum Vorteil des Patienten oder des Zahnarztes? Katrin Pothe, Ralf Vollmuth, Hans-Jürgen Gahlen, Kathleen Bröhl Ein sechsjähriger aufgeweckter und kooperationsbereiter Junge soll in Narkose eine Cerec-Krone am kariösen Zahn 84 erhalten. Denn, so argumentiert der spezialisierte Kinderzahnarzt, die Behandlung eines Kindes erfordere viel Zeit und in Narkose ließen sich die Prozesse der Vertrauensbildung und der Behandlung abkürzen und der Patient würde weniger traumatisiert. Auch sei die Behandlung für den behandelnden Zahnarzt entspannter und weniger anstrengend. Foto: adobeStock - Yuri Bathan Experten präsentieren Fälle mit ethischem Klärungsbedarf. 84 Praxis

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