Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22
zm 108, Nr. 22, 16.11.2018, (2649) Das traditionelle ärztliche Ethos verlangt von den Ärzten, bei ihren Entscheidungen keine Kostenerwägungen anzustellen, son- dern sich stattdessen ganz auf das Wohler- gehen und den Willen des Patienten zu kon- zentrieren. Jedoch steht das Gesundheits- system heute vor der Herausforderung, mit einer zunehmenden Ressourcenknappheit und steigendem Kostendruck medizinisch rational, ökonomisch sinnvoll und ethisch vertretbar umzugehen. Problematisch sind aber der Prozess der Ökonomisierung und seine Folgen (für Pa- tienten, medizinisches und nicht-medizini- sches Personal sowie das Gesundheitssystem als solches), die die Ziele der Gesundheits- versorgung gefährden. Nach einer Definition der Zentralen Ethikkommission bei der Bun- desärztekammer liegt Ökonomisierung vor, „wenn betriebswirtschaftliche Parameter jenseits ihrer Dienstfunktion für die Verwirk- lichung originär medizinischer Aufgaben eine zunehmende Definitionsmacht über individuelle und institutionelle Handlungs- ziele gewinnen“. Darin ist die problematische Orientierung an patientenfernen Interessen zu sehen, wobei sie zwingend von einer un- ter Umständen sogar notwendigen Be- achtung des Effizienzgebots als ethische Dimension des Gesundheitswesens zu tren- nen ist. Ein von patientenfernen Interessen geleitetes Handeln gefährdet nicht nur die Orientierungssicherheit der Ärzte und die Erwartungssicherheit der Patienten, son- dern konfligiert mit dem ärztlichen Ethos, das in der von Beauchamp und Childress entwickelten Prinzipienethik ausformuliert durch die Prinzipien Wohltun, Nichtscha- den, Autonomie und Gerechtigkeit seinen Rahmen findet. In Bezug auf die mit der Fallskizze verbunde- nen Fragen ist festzuhalten, dass die „Unter- nehmensphilosophie“ sämtlicher medizini- schen Einrichtungen bei allen durchaus er- laubten wirtschaftlichen Zielen vom medizi- nischen Auftrag und spezifischen ärztlichen Ethos bestimmt sein muss. Wie sind nun die geplanten Maßnahmen in diesem Sinn zu beurteilen? Es liegen sowohl zur Versorgung stark zer- störter Milchzähne mit Kronen als auch zur zahnärztlichen Behandlung von Kindern in Intubationsnarkose Stellungnahmen der DGZMK vor. Danach hängt aufgrund fehlender vergleichender Studien zur Über- lebensrate von Kronen und adhäsiv veran- kerten Füllungsmaterialien im Milchgebiss die Entscheidung, entweder adhäsiv zu be- festigende Füllungen oder Kronen zu ver- wenden, unter anderem von der Erfahrung des Behandlers und von der Kooperations- fähigkeit des Kindes ab. Da A. nach Ein- schätzung von Frau Dr. M. durchaus koope- rationsbereit scheint und sie sich die Fül- lungstherapie zutraut, sollte im Sinne des Wohltuns-Prinzips eine Füllungstherapie durchgeführt werden. Die Überlegungen zu den Gefahren einer Füllungstherapie versus Kronenbehandlung von Dr. K. sind wegen der fehlenden Datenlage spekulativ. Gemäß der Stellungnahme zur Intubations- narkose zählen zu den Indikationen dieser Behandlungsmaßnahme neben akuten Er- krankungen auch allgemeinmedizinische Risiken und Vorerkrankungen oder Verhal- tensstörungen. Gewinnt der Zahnarzt bei behandlungsunwilligen Kindern während der Vorbehandlungen den Eindruck, dass eine weitere und adäquate Versorgung un- ter Lokalanästhesie nicht möglich ist, kann sich hieraus ebenfalls eine Indikation für die Durchführung einer Intubationsnarkose er- geben. All dies ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Nicht genannt werden in der Stel- lungnahme der DGZMK die von Dr. K. vor- gebrachten Argumente für die Intubations- narkose: Abkürzung der Vertrauensbildung Kommentar 1 „Das Kind ist nicht behandlungsunwillig“ Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkur- rierenden, nicht miteinander zu vereinba- renden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzep- tionen (wie die Tugendethik, die Pflichten- ethik, der Konsequentialismus oder die Für- sorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipien- ethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Über- zeugungen als allgemein gültige ethisch- moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander ab- gewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non-Ma- lefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Ge- rechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik er- möglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamt- beurteilungen und Entscheidungen. Des- halb werden bei klinisch-ethischen Fall- diskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik 85
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