Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22
zm 108, Nr. 22, 16.11.2018, (2651) lung in Intubationsnarkose auch dann, wenn während der Vorbehandlung der Ein- druck entsteht, dass eine weitere und adä- quate Versorgung des kleinen Patienten un- ter Lokalanästhesie nicht möglich ist. Im vorliegenden Fall handelt es sich aller- dings offenbar um ein „altersentsprechend entwickeltes, aufgewecktes und kooperati- onsbereites“ (Vor-)Schulkind. Die Beschrei- bung der Befundungssituation in der Praxis der Hauszahnärztin lässt keinen Anhalts- punkt für eine derartige Indikation erkennen. Auch fehlt ein entsprechender Hinweis im kollegialen Telefonat zwischen den beiden Zahnärzten, sollte das Auftreten des Kindes in der Kinderzahnarztpraxis ein anderes sein. Patientenautonomie (Selbstbestimmungsrecht) Aufgrund des Alters des Patienten ist seine Mutter für die Wahrung seiner Patientenau- tonomie verantwortlich. In diesem Zusam- menhang muss die Frage gestellt werden, ob Frau F. ausreichend über mögliche Be- handlungsalternativen und Therapierisiken aufgeklärt wurde und damit in der Lage ist, eine fundierte Entscheidung für ihren Sohn treffen zu können. Ihre Äußerungen der Fa- milienzahnärztin gegenüber lassen daran zumindest Zweifel aufkommen. Sollte eine adäquate Aufklärung unterlassen worden sein, wäre im Übrigen aus rechtli- cher Sicht gar keine wirksame Einwilligung in die vorgeschlagene Behandlung möglich. Benefizienz (Wohl des Patienten) Das Wohl des Patienten haben beide Zahn- ärzte im Auge, keiner empfiehlt den Verzicht auf eine Therapie. Gerade im Altersband des Jungen ist eine rasche Therapie angezeigt. Die Nichtbehandlung von Karies an Milch- zähnen kann zu Schmerzen oder zu Abszes- sen führen. Die Infektionsgefahr für die Nachbarzähne steigt rapide. Bei vorzeiti- gem Verlust der Milchzähne kann der Durchbruch der bleibenden Zähne er- schwert werden, da die Platzhalterfunktion verloren geht. Darüber hinaus ist natürlich auch die Ästhetik nicht außer Acht zu lassen, um mögliche Hänseleien zu vermeiden. Non-Malefizienz (Nichtschadensprinzip) Aber würde dem kleinen Patienten durch eine Behandlung in Narkose nicht doch ge- schadet? Er bekäme den Eindruck, das Le- gen einer Füllung sei keine normale zahn- ärztliche Behandlung, sondern ein Anlass, der eine Narkose (mit all deren Risiken und Begleiterscheinungen wie Herz-Kreislauf- Versagen, Anaphylaxie, Thrombosen, die Gefahr einer Lungenentzündung durch Aspiration, oder auch „nur“ die vorher nöti- ge Nüchternheit oder Übelkeit und Erbre- chen als Nachwirkung beispielsweise) erfor- dert. Ein normaler adäquater Umgang mit den notwendigen Zahnarztbesuchen im Laufe des Lebens ist dadurch wahrscheinlich eher nicht möglich. Die Indikation für eine Vollnarkose sollte in diesem Fall also eher eng gestellt werden, da die Risiken für die Behandlung lediglich eines Zahns doch sehr hoch sind. Wenn sie hingegen vorliegt, steht die Anfertigung der Cerec-Krone auch deutlich hinter der Füllungstherapie. In Nar- kose lässt sich selbst eine ausgedehnte Fül- lung zügig und so fachgerecht legen, dass die Risiken von Sekundärkaries und Fül- lungsverlust innerhalb der zu erwartenden Nutzungsdauer von 3 bis 5 Jahren bis zur natürlichen Exfoliation sehr gering sind. Die lange Narkosedauer, die für die Anfertigung einer Cerec-Krone notwendig ist, steht in keinem Verhältnis dazu. Gerechtigkeit Aus Sicht des Kinderzahnarztes Dr. K. steht die Rentabilität und Wirtschaftlichkeit seiner Praxis natürlich in engem Zusammenhang mit den offerierten und präferierten Be- handlungsoptionen. Es wäre ihm nicht zu- zumuten, wirtschaftliche Einbußen zuguns- ten des Patienten hinzunehmen. Jedoch kann die monetäre Komponente nicht hö- herwertiger sein als das Wohl des Patienten. Die Entscheidung für den Therapievor- schlag von Dr. K. würde darüber hinaus zu einer ungerechten Belastung der Solidarge- meinschaft führen, da in diesem Fall die Kos- ten für Narkose und Zahnersatz, zumindest anteilig, zu tragen wären. Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es legitim ist, beim Behandlungskonzept neben der Einhaltung fachlicher Standards auch die wirtschaftlichen Interessen einer Praxis im Blick zu behalten. Das Wohl des Patienten ist jedoch das deutlich höher zu wertende Gut und darf auf keinen Fall hinten ange- stellt werden. Der „Stressfaktor“ des Zahnarztes in Bezug auf die Narkoseindikation ist sehr gering einzustufen, zumal es sich hier um eine Spe- zialpraxis handelt, bei der man erwarten kann, dass der erhöhte Zeit- und Betreu- ungsaufwand der Kinderpatienten bekannt ist und mit der Spezialisierung „erlernt“ und in Kauf genommen wird. Die Behandlung eines einzelnen Zahns in Vollnarkose bei einem normal kooperations- bereiten Kind gibt dieser Behandlung einen Stellenwert, der weit über die Normalität hinausgeht und es voraussichtlich unmög- lich macht, einen adäquaten Umgang mit dem Zahnarztbesuch im Allgemeinen und den Therapien im Speziellen zu erlernen. Die Schaffung eines „Angstpatienten“ mit einer weiteren Karriere der Behandlung in Vollnarkose scheint hier vorgezeichnet. \ Kathleen Bröhl Christoph-Rapparini-Bogen 5 80639 München Kathleen.Broehl@gmx.de Porträt: privat Der Arbeitskreis verfolgt die Ziele: \ das Thema „Ethik in der Zahnmedizin“ in Wissenschaft, Forschung und Lehre zu etablieren, \ das ethische Problembewusstsein der Zahnärzteschaft zu schärfen und \ die theoretischen und anwendungs- bezogenen Kenntnisse zur Bewältigung und Lösung von ethischen Konflikt- und Dilemmasituationen zu vermitteln. www.ak-ethik.de Arbeitskreis Ethik 87
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