Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 109, Nr. 01-02, 16.1.2019, (42) In der Medizin sind Form- und Funktions- relationen schon lange bekannt. Ende des 19. Jahrhunderts begründete Julius Wolff mit dem Gesetz der Transformation von Knochen die klassische Biomechanik. Er zeigte, dass die Knochenformation in Ab- hängigkeit von der Belastung organisiert wird [Wolff, 1886]. Im gleichen Zeitraum postulierte der Anatom und Biologe Wilhelm Roux die Physiologie der Formgebung in seiner These des Prinzips der funktionellen Anpassung [Roux, 1902]. Er hatte beobach- tet, dass sich die Flossen von Delfinen an die Strömungsgeschwindigkeit der Gewässer anpassen. Im Bereich der Zahnmedizin setzte sich Melvin Moss intensiv mit der funktio- nellen Wachstumsstimulation auseinander und postulierte in den 1960er-Jahren seine „funktionelle Matrixtheorie“, die für das Knochenwachstum den funktionellen gegen- über epigenetischen Aspekten eine über- geordnete Rolle zuordnet [Moss, 1968]. Die Kieferorthopädie ist ein essenzieller und integraler Bestandteil einer synoptisch inte- grativen zahnärztlichen wie auch medizi- nischen Versorgung. Die Kernkompetenzen des Faches liegen in der präventiven und kurativen Behandlung von Zahn- und Kie- ferfehlstellungen sowie in der funktionellen Harmonisierung persistierender Dysfunktio- nen, die mit dem stomatognathen System in Interaktion stehen. Diese sind – anders als zunächst bekannt – nicht nur auf die Mund- Fortbildung KFO Kieferorthopädie und Funktion Heike Korbmacher-Steiner „Form follows function“ – was heute als Leitsatz in Architektur und Produktdesign gilt, hatten ihre Pioniere der Natur abgeschaut. Die physische Gestalt erscheint nicht a priori gesetzt, sondern als ein Ergebnis der Bewegung, der Funktion. In der Kieferorthopädie lassen sich bis zu 80 Prozent der Dysgnathien auf eine (Dys)Funktionsbeteiligung zurückführen, nur ein kleiner Teil ist genetisch bedingt. Dysfunktionen spielen also eine wichtige „formgebende“ Rolle. Abbildung 1: Das interaktive Funktionslogensystem als Erklärungsmodell für die wissenschaftlich nachgewiesenen funktionellen Interaktionen des stomatognathen Systems mit anderen Körper- arealen. Das zahnärztliche Behandlungsfeld ist direkt auf die Zahn-, Mund- und Kieferregion fokussiert. Indirekt steht diese Region jedoch in Wechselwirkungen zu anderen Funktionsarealen (Atmung, Wirbelsäule, Muskulatur – generell und spezifisch, Zunge, Lippen). Erst nach Über- schreitung eines gewissen, individuellen Schwellenwerts werden Störungen klinisch evident. Quelle: Korbmacher-Steiner 44 Zahnmedizin

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