Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02
zm 109, Nr. 01-02, 16.1.2019, (43) region begrenzt. VomMundraum entferntere Funktionsstörungen, die in Wechselwirkung zu dem stomatognathen System stehen, werden zunehmend wissenschaftlich detek- tiert und klinisch beschrieben. Ätiologie von Dysgnathien Im Sinne der Form- und Funktionsrelationen und somit einer funktionell stimulierten Formgebung besitzen (Dys)funktionen einen entscheidenen Einfluss auf die dentale und skelettale Entwicklung des Viszerokraniums und durch funktionelle Verknüpfung mit anderen Bereichen auch auf den gesamten Körper. Dieses Wissen spiegelt sich in der Ätio- logie von Dysgnathien wider und bestimmt entscheidend die Langzeitstabilität und die Wahl des geeigneten Therapieansatzes. Erstaunlicherweise ist der Prozentsatz rein genetisch determinierter Dysgnathien mit einem Anteil von circa 20 Prozent relativ gering [Schopf, 1981]. Zu diesen endogen geprägten Fehlstellungen zählen Anomalien hinsichtlich der Zahnzahl und Zahnform so- wie die Quantität des Unterkieferwachstums. Bekanntes Beispiel sind hierbei Vertreter des Habsburger Geschlechts, die aus kiefer- orthopädischer Sicht ein markantes und daher auch so beschriebenes Klasse-III-Profil in Form einer positiven Lippentreppe auf- weisen. Durch sie wurde der Begriff der „Habsburger Lippe“ als kieferorthopädischer Fachterminus geprägt. Weitere 30 bis 50 Prozent aller Dysgnathien werden haupt- sächlich durch exogene Faktoren wie Trau- mata, frühzeitiger (Milch-)Zahnverlust und/ oder Dysfunktionen in Form von Muskel- funktionsstörungen, Atmung, Haltung und Habits hervorgerufen. Die verbleibenen 30 bis 45 Prozent der Dysgnathien werden sowohl endogen als auch exogen geprägt. Dysfunktionen unterhalten somit die Ent- stehung von bis zu 80 Prozent aller Dys- gnathien [Schopf, 1981]. Insbesondere die Langzeitstabilität von kie- ferorthopädischen Ergebnissen beziehungs- weise die Inzidenz von Rezidiven wird durch persistierende Dysfunktionen beeinflusst. Generell gilt: Je kausaler ein Therapieansatz gewählt wird, um so langfristig stabiler ist das erzielte Ergebnis. Eine große Rezidiv- freudigkeit kann zum Beispiel beim offenen Biss beobachtet werden. Bedingt durch die häufig auch nach Abschluss einer kiefer- orthopädischen Intervention persistieren- den Dysfunktionen in Form von potenziell kompetentem Mundschluss, einer kaudalen Zungenlage oder Zungenpressen wird eine erneute Öffnung des zuvor kieferorthopädisch geschlossenen Bisses hervorgerufen. Form- und Funktions- relationen Die anatomisch dem stomatognathen System in unmittelbarer Nähe gelegenen Dysfunk- tionsbereiche sind die der Lippen und der Zunge. Der amerikanische Kieferorthopäde A. P. Rogers veröffentlichte bereits 1918 ein Muskeltraining für die Kieferorthopädie und gilt somit als Mitbegründer der „Myofunk- tionellen Therapie“ [Rogers, 1918]. Geprägt durch seine Zusammenarbeit mit den Kinder- ärzten beschrieb er ein Muskeltraining für die Mund- und Kaumuskulatur zur Förderung eines eugnathen Kieferwachstums. Neben weiteren Vertretern wurde dieses Konzept unter anderem von Straub [1962], Barret und Hanson [1974] und Garliner [1974] aufgenommen und weiterentwickelt. Alle Ansätze und Übungskonzepte der Myo- funktionellen Therapie streben ein soma- tisches Schluckmuster unter Aktivierung der Kaumuskulatur und Harmonisierung der mimischen Muskulatur mit Etablierung eines kompetenten Mundschlusses an. In den 1980er-Jahren prägte Tränkmann den Begriff des „inneren und äußeren Funk- tionskreises“ zur Beschreibung der kiefer- orthopädisch relevanten Dysfunktionen [Tränkmann, 1982]. In dieser Zeit zeigten viele Studien, dass neben einer Dysgnathie häufig auch orofaziale Dysfunktionen des inneren und äußeren Funktionskreises (Lippensaugen, offene Mundhaltung, per- sistierendes viszerales Schluckmuster) bei zusätzlichem Vorliegen von Sprachauffällig- keiten registriert werden können. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Logopäden, Sprachheiltherapeuten und Kieferorthopäden sowie Zahnärzten wurde daher insbesondere bei Sprachentwicklungs- auffälligkeiten bei Kindern postuliert. Eine Artikulationsstörung in Form eines Sigmatis- mus oder einer multiplen Addentalität wurde vermehrt bei Kindern mit vergrößerten sagittalen Frontzahnstufen oder frontoffenen Bissen detektiert. Diese kieferorthopädischen Befunde werden häufig dysfunktionell durch einen potenziell kompetenten Mund- schluss oder gar durch eine offene Mund- haltung, eine kaudale Zungenlage oder ein persistierendes viszerales Schluckmuster bei häufig muskulärer Hypotonie unterhalten. Eine Korrelation zum Grad der Ausprägung der Malokklusion konnte bisher jedoch nicht nachgewiesen werden. Ebenso wenig bringt generell eine kieferorthopädische Korrektur eine spontane Verbesserung der Phonetik mit sich. Die Harmonisierung der dentalen, skelettalen und funktionellen Befunde trägt jedoch zu einer dauerhaft erfolgreichen Etablierung einer harmonischen Phonetik bei [Korbmacher und Giel, 2007]. Aktuellere interdisziplinäre Forschungsansätze zeigen jedoch, dass eine Fokussierung auf die Region des Mundbereichs bei Weitem nicht alle dysfunktionellen Einflüsse und Wechselwirkungen abdeckt. Therapieansätze aus den Bereichen der Rehabilitation (zum Beispiel Orofaziale Regulationstherapie nach Castillo Morales) oder Logopädie (zum Beispiel Neurofunktionelle Reorganisation nach Padovan) arbeiten mit dem Aufbau von Körperspannung initial, um letzten Endes Veränderungen im Mundbereich zu erzielen. Geprägt durch die interdisziplinäre Behand- lung und wissenschaftliche kooperative Stu- dien zu Patienten mit Atem-, Schluck- und Sprechstörungen und mit syndromalen Erkrankungen sowie durch interdisziplinäre Studien innerhalb orthopädischer Patienten- kollektive wurde ein Erklärungsmodell ent- wickelt, das die nachgewiesenen Wechsel- wirkungen veranschaulicht, das „Interaktive Funktionslogensystem“ [Korbmacher, 2004] (Abbildung 1). Es dokumentiert, inwieweit über Funktion beziehungsweise Dysfunktion das stomatognathe System mit anderen Körperarealen verknüpft ist. Hierbei wird der Körper in einzelne Funktionskomparti- mente unterteilt – die Funktionslogen. Diese stehen unter Funktion in Wechselwirkung. Bis zu einem gewissen Grad (qualitativ und 45
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