Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 109, Nr. 01-02, 16.1.2019, (44) quantitativ, also Intensität und Dauer der persistierenden Dysfunktion) manifestiert sich klinisch die Interaktion der unterschied- lichen Logen nicht. Erst ab einem gewissen Schwellenwert wird die Wechselwirkung kli- nisch evident. Hierbei gilt, dass jeder Patient einen individuellen Schwellenwert besitzt, bis zu welchem Störungen kompensiert werden können. Dieses Kompensations- potenzial unterliegt Tagesschwankungen und wird durch die Psyche beeinflusst. In den seltensten Fällen treten Dysfunktio- nen singulär auf [Korbmacher et al., 2005]. Der klinische Befund ist häufig symptom- übergreifend und daher auch fachübergrei- fend [Korbmacher, 2002]. Mit zeitlich zu- nehmender Persistenz der Symptome steigt auch die Komplexität der Befunde. Funktionsloge „Lippen“ Die Kompetenz der Lippen ist entscheidend für die Positionierung der Frontzähne. Jeg- liche Störung in Form von Lippensaugen, Beißen, Lutschhabit und Nägelkauen redu- ziert die Kompetenz der Lippen und hat einen Effekt auf die Frontzahnstellung. Ein kompetenter Mundschluss – das heißt, das entspannte Aufeinanderlegen der Lippen bei Mundschluss ohne aktive Muskel- kontraktion – besitzt für die kraniofaziale Entwicklung einer eugnathen (Front)Zahn- und Kieferstellung eine übergeordnete Rolle [Nishi et al., 2015]. Im täglichen Umgang mit Klasse-II-Patienten stellt die Einlagerung der Unterlippe hinter den Oberkieferfrontzähnen einen Ko-Faktor für eine progrediente Vergrößerung einer sagittalen Frontzahnstufe dar [Nguyen et al., 1999] (Abbildung 2). Zahntraumata werden mit einer Prävalenz von 25 Prozent angegeben [Petti, 2015]. Patienten mit einem Overjet von mehr als 3 mm besitzen ein doppelt so großes Risiko, ein Frontzahntrauma zu erleiden als Patienten mit einer sagittalen Stufe kleiner 3 mm [Nguyen, 1999]. Hierbei spielt neben dem Ausmaß der sagittalen Stufe auch die Qualität der Lippen- kompetenz eine entscheidende Rolle. Eine mangelnde Lippenbedeckung aggraviert die dentalen Traumafolgen [Bauss et al., 2008]. Auch das Lutschhabit resultiert in einem frontoffenen, meist asymmetrischen Biss. Bei Abgewöhnung des Lutschhabits bis zum Alter von fünf Jahren schließt sich dieser im Rahmen des Selbstheilungseffekts. Persistie- rende Lutschhabits bis zum Alter von sieben Jahren gelten als signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung seitlicher Kreuzbisse und frontoffener Bisskonfigurationen, da die Dysfunktion nicht nur die Zahnentwicklung beeinflusst, sondern eine physiologische Kieferentwicklung hemmt [Borrie et al., 2015; Chen, 2015] (Abbildung 3). Funktionsloge „Cavum oris“ In dieser Funktionsloge dominiert die Funk- tion des Schluckens. Der Schluckakt dient der Aufnahme, dem Transport und dem Schutz vor Aspiration. 26 Muskelgruppen sowie 5 Hirnnerven koordinieren diesen komplexen Funktionsablauf, der im Mund- raum willkürlich und im Rachenraum eher reflektorisch stattfindet. Schlucken ist mit 2.000 Schluckakten pro Tag und 700 bis 900 Schluckakten pro Nacht der häufigste Bewegungsvorgang des Körpers. Patho- logische Schluckmuster liegen anomalie- spezifisch vor. So ist bei einer skelettalen Klasse III, die häufig mit einer maxillären Konstriktion assoziiert ist, meist eine kaudale Zungenlage mit Zungenpressen zu beob- achten. Bei Anomalien der Klasse II.1 wird klinisch häufig ein addentaler Zungendruck gegen die Frontzähne detektiert. Durch den meist auch vorliegenden hypotonen Mus- keltonus rollt sich der mittlere Zungenanteil nicht am Gaumen ab. Über die Zeit mani- festiert sich die fehlende Stimulation auf den Oberkiefer durch die Zunge in einer maxillären Konstriktion (Abbildung 4). Eine Stimulation durch einen Zungendruck am Gaumen und somit eine Stimulation auf das Oberkieferwachstum bleiben aus [Dixit und Shetty, 2013]. Funktionsloge „Muskulatur“ Die Muskulatur stellt eine der wichtigsten Logen im System dar und bestimmt die individuelle Kompetenz der Kompensation. In Abhängigkeit vom jeweiligen Wachstum beziehungsweise Gesichtsaufbau wird auch von einer schwachen oder starken musku- lären Verankerungskapazität gesprochen. Generell muss die Muskulatur in drei Unter- gruppen betrachtet werden: \ Gesamtmuskulatur: Muskeltonusstörun- gen im Allgemeinen – insbesondere der muskuläre Hypotonus – haben eine große Bedeutung bei der Pathogenese von Funk- Abbildung 2: Ausgeprägte Inkompetenz des Mundschlusses mit deutlicher Auflage der oberen zentralen Schneidezähne auf die Unterlippe, die zu einer progredienten Protrusion führt. a) en-face Aufnahme, b) Profil. Alle Fotos: Korbmacher-Steiner b a 46 Zahnmedizin

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