Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 109, Nr. 01-02, 16.1.2019, (46) zu erkennen. So wird die charakteristische Erscheinung von Mundatmern auch häufig als „Facies adenoidea“ oder „Long-face Syndrom“ bezeichnet (Abbildung 5). Eine über das Wachstum persistierende Mund- atmung bringt eine vermehrte Posterior- rotation der Mandibula, eine Aufknickung des Gonionwinkels sowie eine vergrößerte untere Gesichtshöhe mit sich [Proffit, 2018]. Von extraoral äußert sich dies in einem inkompetenten Mundschluss, einer mikro- rinen Dysplasie sowie einem verlängerten Untergesicht, während intraoral ein oberer Schmalkiefer, ein frontoffener Biss und pro- trusiv stehende Frontzähne imponieren. Kieferorthopädisch kann eine Verbesserung der Atmung über eine Optimierung der Anatomie durch eine Verbreiterung der Kieferhöhle über eine Gaumennahterweite- rung [Aziz et al., 2015; Baratieri et al., 2011; Buck et al., 2017; Camacho et al., 2017] oder über eine sagittale Nachentwicklung der Mandibula unterstützt werden [Carvalho et al., 2016; Xiang et al., 2017]. Viele inter- disziplinäre Studien konnten nachweisen, dass durch eine aktive transversale Erweite- rung des Gaumens der anteriore nasale Atemwiderstand reduziert und eine Verbes- serung der Nasenatmung erzielt wurden [Castillo, 2012; Iwasaki et al., 2013; Lee et al., 2018]. Durch eine Ventralpositionierung der Man- dibula mittels funktionskieferorthopädischen Geräten im Wachstum oder im Erwachsenen- alter mithilfe von bimaxillären herausnehm- baren Protrusionsschienen kann eine Erwei- terung des oropharyngealen Luftraums er- reicht werden [Zhu et al., 2015; Marklund, 2017]. Bei milder Ausprägung einer ob- struktiven Schlafapnoe stellen diese Appara- turen daher eine Alternative zur CPAP-Beat- mung dar [Schwartz et al., 2017; Airumaih et al., 2018]. Die Effizienz klinischer Studien ist derart überzeugend, dass dieser Ansatz in den aktuellen Leitlinien, der S2k-Leitlinie „Diagnostik und Therapie des Schnarchens des Erwachsenen“ von der Arbeitsgemein- schaft für Schlafmedizin der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen-, und Ohren- heilkunde e.V. [Stuck et al., 2013] sowie in der S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf / Schlafstörungen“ [DGSM, 2017], verankert ist. Funktionsloge „Kiefergelenk“ Im Bereich von Craniomandibulären Dys- funktionen treten Störungen im Bereich des Kiefergelenks und der assoziierten Muskel- gruppen, den sogenannten anterioren und posterioren Dysfunktionsketten auf. Die Komplexität der Craniomandibulären Dysfunktion ist hinreichend bekannt. Funktionsloge „Wirbelsäule“ Solow beschäftigte sich intensiv mit der Körperhaltung und dem Einfluss auf die Gesichtsentwicklung. In den 1970er-Jahren beschrieb er in seiner „soft tissue stretching Hypothese“, wie die Kopfhaltung über eine neuromuskuläre Kopplung Folgen für die Entwicklung des Viszerokraniums besitzt [Solow und Kreiborg, 1977]. Kreuzbisse werden auch vermehrt bei Patienten mit asymmetrischen Befunden im Bereich der Wirbelsäule detektiert [Korbmacher et al., 2004; Korbmacher et al., 2007]. Studien mit Patienten mit Skoliose, Hüftdysplasie, Torticollis oder einer Asymmetrie im Bereich der Halswirbelsäule konnten dies bestätigen. Tierexperimentelle Untersuchungen zeigten eindrucksvoll, dass nach Etablierung eines einseitigen Kreuzbisses Auffälligkeiten der Zungenmotorik, eine veränderte Halswirbel- säulenstellung in Form einer nicht strukturell fixierten Skoliose, Auffälligkeiten im Herz- Kreislauf-System im EKG sowie Haltungs- änderungen hervorgerufen wurden. Nach Wiederherstellung einer symmetrischen Okklusion konnte eine Harmonisierung der Befunde bei der Mehrzahl der Tiere beobachtet werden [Azzuma et al., 1999; D’Attilo et al., 2005]. Persistenz von Dysfunktionen während des Wachstums Grabowski prägte den Begriff des „kiefer- orthopädischen Risikokindes“. Basierend auf den Ergebnissen einer groß angelegten Querschnittsstudie mit 766 Kindern mit Milchgebiss und 2.275 Kindern mit einem frühen Wechselgebiss liegt bei den Indika- tionen „vergrößerter Overjet“, „frontoffener Biss“, „Progenie“ sowie „unilateraler Kreuz- biss“ bei zeitgleichem Vorliegen einer Dys- funktion in Form von einer passiven (Zun- genlage) oder von zwei aktiven Dysfunk- tionen (Schluckmuster, Habits, Artikulation) ein „kieferorthopädisches Risikokind“ vor [Grabowski et al., 2007]. Die Zunahme der Prävalenz dieser Anomalien unter Wachstum ohne therapeutische Intervention dokumen- tiert die formgebende Potenz persistierender Dysfunktionen während Phasen intensiven kraniofazialen Wachstums. Zu empfehlen ist neben einer kieferorthopädischen Inter- vention daher ein frühes Screening mit der Einleitung früher funktioneller Übungen. Abbildung 5: Facies adenoidea bei zwei Jungen unterschiedlichen Alters in unterschiedlicher Aus- prägung: Bei beiden Patienten liegen ein potenziell inkompetenter Mundschluss, eine mikrorhine Dysplasie sowie ein Mentalishabit vor. 48 Zahnmedizin

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