Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 08
zm 109, Nr. 8, 16.4.2019, (822) Zahnärzten wird laut Kinderschutz-Leitlinie eine wichtige Rolle bei der Erkennung von Kindeswohlgefährdung zugewiesen. Doch, so ist im zahnärztlichen Kapitel zu lesen: Dentale Vernachlässigung bei Kindern oder Jugendlichen auch als solche zu erkennen, ist eine ech- te Herausforderung im Praxisalltag und fordert vor allem auch die Kompetenz von ausgewiesenen Fachleuten heraus. Das betrifft ins- besondere das Gebiet der Kinderzahnheilkunde und Traumatologie (Kinderzahnärzte, Fachzahnärzte oder Fachärzte für Mund-Kiefer- Gesichtschirurgie). Wo ist die Grenze zwischen Karies und Vernachlässigung? Was ist eigentlich dentale Vernachlässigung? Die Leitlinie bringt ein bestehendes Dilemma auf den Punkt: Es gibt keinen Grenzwert für die Anzahl kariöser Zähne und auch keine anderen spezifischen Er- krankungen des Mundes, die zwangsläufig zu der Diagnose Vernach- lässigung führen. Auch existiert in der Literatur keine einheitliche Definition für dentale Vernachlässigung. Hier hilft eine andere Quelle weiter: Dr. Reinhard Schilke, Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde der Medizinischen Hochschule Hannover, hat dazu bereits 2009 in den zm publiziert [Schilke et al., „Zahnärzte haben hohe Verantwortung“, zm 21/2009]. Er hatte in seinem Beitrag herausgestellt: Vernachläs- sigung verläuft schleichend. Sie beginnt meist im Säuglings- und Kleinkindalter und bleibt häufig bis zum Eintritt in den Kindergarten oder die Schule unerkannt. Aktive Vernachlässigung ist die wissent- liche Verweigerung von Handlungen (Versorgung, Hygiene, Nahrung, Schutz), die von den sorgeberechtigten Personen als Bedarf des Kin- des erkannt wird. Passive Vernachlässigung entsteht aus mangelnder Einsicht oder Nichterkennen von Bedarfssituationen, Überforderung oder unzureichenden Handlungsmöglichkeiten der sorgeberechtig- ten Personen (zum Beispiel: Alleinlassen des Kindes, Vergessen von Versorgungsleistungen, unzureichende Pflege, Mangelernährung). Eine scharfe Grenzziehung zwischen passiver und aktiver Vernachläs- sigung ist oftmals nicht möglich. Deshalb – so formulierte es Schilke in dem Beitrag – beginne Ver- nachlässigung ab dem Zeitpunkt, ab dem ein Arzt oder Zahnarzt den sorgeberechtigten Personen die Erkrankung des Kindes, deren Ausmaß und die notwendige Behandlung sowie die Wege, diese Behandlung zu erreichen, aufgezeigt hat und diese auf das schwerwiegende zahnmedizinische Problem nicht angemessen reagiert haben. Das zahnärztliche Kapitel der neuen Leitlinie greift diese Aspekte sys- tematisch auf und betont, dass sowohl persönliche als auch familiäre Kontextfaktoren einen Einfluss auf die Mundgesundheit einer Person haben können. In den Erläuterungen heißt es dazu: Kinder und Jugendliche, die einem oder mehreren der folgenden Faktoren aus- gesetzt sind, weisen ein erhöhtes Risiko einer eingeschränkten Mundgesundheit auf: Sie stammen aus benachteiligten Familien, ha- ben Eltern mit Substanzabusus, einen Fluchthintergrund oder sonsti- ge besondere Bedürfnisse. Auch weitere negative Lebenserfahrungen können sich auf die Mundgesundheit der Kinder und Jugendlichen auswirken. Dazu ge- hören etwa eine Scheidung der Eltern, die Inhaftierung eines Eltern- teils, häusliche Gewalt oder Gewalt in der Nachbarschaft. Und Jugendliche, die eine selbst wahrgenommene schlechte Mund- gesundheit beschreiben, berichten der Leitlinie zufolge auch eher von Mobbing, Erfahrungen mit körperlicher Misshandlung, Partner- gewalt und erzwungenem Geschlechtsverkehr. Die Rolle der Zahnärzte im Kinderschutz Zwar können sich Ärzte einen allgemeinen Einblick über die Mund- gesundheit von Kindern verschaffen. Wie die Leitlinie herausstellt, ist ihre Diagnose aber im Vergleich zu zahnärztlichen Untersuchungen eher oberflächlich und birgt das Risiko, dass relevante Befunde über- sehen werden. Deswegen kommt Zahnärzten, Fachzahnärzten und Fachärzten für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie zwei entscheidende Aufgaben im Kinderschutz zu: \ Anzeichen von (dentaler) Vernachlässigung und anderen Formen der Misshandlung zu erkennen, wenn Kinder ihre Praxis besuchen, sowie \ die Untersuchung der Mundgesundheit von Kindern mit Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung im Rahmen des diagnostischen Prozesses (zum Beispiel nach Über- weisung durch andere Ärzte) durchzuführen. In den Erläuterungen im zahnärztlichen Kapitel verweist die Leitlinie auf zahlreiche Studien, die gezeigt haben, dass in vielen Fällen, in denen sich Zahnärzte um die schlechte Mundgesundheit von Kindern sorgen und dies dem Jugendamt mitteilen, ihre Familien oft bereits Hilfe oder Unterstützung durch das Jugendamt erhalten. Ferner weist die Leitlinie darauf hin, dass die mangelnde Bereitschaft, zum Zahnarzt zu gehen, oft von äußeren Faktoren beeinflusst wird. Als typischer Grund für das Nichtwahrnehmen eines Termins wird die Überlastung der Eltern im Alltag genannt, was auf einen geringen Stellenwert des Themas Mundgesundheit in der Familie hinweist. Den Eltern fehlen häufig eigene regelmäßige Zahnarztbesuche, das Vertrauen in das zahnmedizinische Gesundheitssystem und Selbst- Zahnärztliches Kapitel in der Leitlinie Eine wichtige Unterstützung im Praxisalltag Die Erläuterungen und Handlungsempfehlungen im Kapitel „Zahnärztliche Untersuchungen“ der Kinderschutz-Leitlinie zielen darauf ab, Zahnärzten Orientierung zum Thema Kindeswohlgefährdung zu geben und deren Verantwortlichkeit im Kinder- schutz hervorzuheben. Wichtig ist, die Anzeichen überhaupt zu erkennen, um dann entsprechende Prozesse einzuleiten. 16 Kinderschutz-Leitlinie
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=