Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 08
zm 109, Nr. 8, 16.4.2019, (824) Die neue Kinderschutzleitlinie verfolgt einen multidisziplinären Ansatz: Welche Rolle spielt der Zahnarzt dabei? Dr. Reinhard Schilke: Wenn ein Zahnarzt bei seiner Untersuchung einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (im Wesent- lichen werden das Vernachlässigung und Misshandlung sein) hat und wenn dieser Fall über den zahnmedizinischen Rahmen hinausgeht, sollte er auf jeden Fall eine zweite Profession hinzuziehen. Neben einer unabhängigen Beratung nach § 4 KKG durch eine insoweit erfahrene Fachkraft wäre dieses zum Beispiel ein Verweis des Kindes zu einer weiteren Untersuchung an einen Kinderarzt, eine Kinderklinik oder eine Kinderschutzgruppe. Wichtig ist, dass sich alle beteiligten Dis- ziplinen im Kinderschutz (Gesundheits- wesen, Jugendhilfe, Pädagogik und Justiz) in ihrer Rolle, ihren Handlungsmöglich- keiten und ihrer Expertise respektieren und mit dem Ziel kooperieren, Kindes- misshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung als solche zu erkennen, festzustellen und zu beenden. Damit eine solche Zusammenarbeit funk- tioniert, wäre es wünschenswert und vorteilhaft, wenn Wege bereits im Vorfeld abgesprochen und einvernehmlich geregelt sind. Habe ich Kontakte zu den Kinder- ärzten in meiner Umgebung? Kenne ich die nächste Kinderklinik oder Kinder- schutzgruppe? [https://www.dgkim.de/ kinderschutzgruppen] In einem konkreten Fall muss dabei jedoch unbedingt be- achtet werden, dass vor einer Kontakt- aufnahme mit diesen Stellen eine Einwil- ligung der Personensorgeberechtigten vorliegen muss. Vermutlich wird es in Verdachtsfällen einer Misshandlung nicht so schwer sein, eine solche Einwilligung zu erhalten, da das Kind in der Absicht in der Zahnarztpraxis vorgestellt wurde, dass ihm geholfen wird. Hier könnte die Bitte um eine Einwilligung zu einer Kontakt- aufnahme mit einem Kinderarzt oder einer Kinderschutzgruppe mit dem Hinweis erfolgen, dass weitere Verletzungen, die außerhalb des Mundes und des Gesichts liegen, erfasst und behandelt werden können. Entscheidend ist auch zu wis- sen: Der Zahnarzt und sein Team sind nicht dafür verantwortlich, die Diagnose Misshandlung oder Vernachlässigung zu stellen. Der gesetzliche Auftrag zur Ein- schätzung der Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt. Letztlich entscheidet das Gericht auf der Grundlage fundierter und transparenter medizinischer Abwägung einer klinischen Konstellation sowie unter Berücksichtigung familiärer und sozialer Aspekte. Sperhake und Herrmann [2008] formulierten es wie folgt: Ärzte/-innen haben als Gutachter/-in und als Wissen- schaftler/-in die Pflicht, die medizinischen Voraussetzungen für eine solche Entschei- dung unparteiisch beizutragen. Konkret besteht die Aufgabe des Zahnarztes und seines Teams darin, ihre Bedenken gegen- über den Eltern zu äußern und zu versuchen darauf hinzuwirken, dass Maßnahmen er- griffen werden, die bestehende Situation zu verändern. Der Zahnarzt sollte jeden seiner Schritte genau dokumentieren. Bei Verdacht auf Vernachlässigung beginnt das zum Bei- spiel mit dem sorgfältigen Erheben der Anamnese (medizinische, familiäre, soziale Anamnese; Wann haben Eltern erste Ver- änderungen bemerkt? Was ist danach pas- siert?), dem Beachten des allgemeinen Erscheinungsbildes (Hygiene, Verhältnis zwischen Kind und Eltern) und setzt sich über genaue Befundaufzeichnungen, Zusammenfassung des Gesprächs und gegebenenfalls wörtliche Aussagen der Eltern und eventuell dem Anfertigen von Fotos (nach Einwilligung und möglichst unter Berücksichtigung der Formulare der Bundeszahnärztekammer) fort. Es soll da- rauf geachtet werden, Vorwürfe oder Schuldzuweisungen zu vermeiden. Gerade bei Verdacht auf Vernachlässigung ist ein „aktives Einbestellen“ erforderlich, da Termine häufig nicht wahrgenommen werden. Gründe für das Versäumen oder eine Absage des letzten Termins sollten dokumentiert werden. Was wissen denn deutsche Zahnärzte über Kindeswohl- gefährdung? Dazu habe wir im Jahr 2009 eine Unter- suchung erstellt. Ergebnis war, dass bei deutschen Zahnärzten – genauso wie in zahlreichen Umfragen bei Zahnärzten in anderen Ländern – Unsicherheiten beim Erkennen und Vorgehen eines Verdachts auf Kindeswohlgefährdung bestehen. Außerdem ist erkennbar, dass der Wunsch besteht, diese Themen sowohl in die Ausbildung zu implementieren als auch postgraduale Fortbildungsangebote dazu anzubieten. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Kinderschutzleitlinie wird es voraussichtlich ab Juni eine Kitteltaschenkarte speziell für Zahnärztinnen und Zahnärzte geben, die im Web abgerufen werden kann. Ist denn das Ausland da weiter – und können Sie Beispiele nennen? Die British Dental Association (BDA) hat eine spezielle Webseite entwickelt, die sich an zahnärztliche Teams, aber auch an Kinderschutzbeauftragte richtet, die mit der Praxis zusammenarbeiten. Dort gibt es systematische Fortbildungsmöglichkeiten, CME und weitere Materialien zum Thema (https://bda.org/childprotection ). Andere Länder haben sich bereits an der Seite orientiert. Und auch in Deutschland gibt es gute Beispiele: So bietet etwa das Projekt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (https://grundkurs.elearning- kinder schutz.de ) einen guten Online-Kurs zum Thema Kinderschutz in der Medizin. Solche Instrumente auf breiterer Basis zu etablie- ren, wäre wünschenswert. Hier ist meines Erachtens die Standespolitik gefragt. Dr. Reinhard Schilke war maßgeblich an der Erstellung des zahnmedizinischen Teils der Kinderschutzleitline beteiligt. Die Fragen stellte Gabriele Prchala. ? ? ? „Der Zahnarzt hat die Aufgabe, darauf hinzuwirken, dass sich die bestehende Situation verändert!“ Dr. Reinhard Schilke, Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, Medizinische Hochschule Hannover (MHH) Porträt: privat 18 Kinderschutz-Leitlinie
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