Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 08

zm 109, Nr. 8, 16.4.2019, (854) Schmerzchronifizierung sind hier – wie bei der Muskulatur – Übertragungsphänomene (zum Beispiel Kopfschmerzen) zu beobach- ten [Hugger et al., 2007]. Aus den Beschrei- bungen wird bereits deutlich, dass es sich bei der sCMD in den meisten Fällen um klas- sische muskuloskelettale Beschwerden han- delt – für den Patienten auf einen einfachen, vergleichbaren Nenner gebracht, um un- spezifischen „Rückenschmerz im Gesicht“. Funktion von Muskulatur und Kiefergelenken Die anspruchsvollen motorischen Aufgaben des Kauorgans haben dazu beigetragen, dass die Evolution dieses System zu einem einzigartigen motorischen Teilsystem ent- wickelt hat, das über zwei getrennte kom- plexe Gelenke verfügt und mit einer Mus- kulatur ausgestattet ist, die sich wesentlich von der Muskulatur der Extremitäten und des Rumpfes unterscheidet. \ Muskulatur Strukturelle Heterogenität Die Kaumuskeln zeigen eine besondere Zusammensetzung ihrer Muskelfasern. So findet man im erwachsenen Kaumuskel dicht gepackte Muskelfaserbündel einzelner motorischer Einheiten mit unterschiedlichen Zugrichtungen auf engstem Raum [Stalberg et al., 1987; McMillan et al., 1991], ganz im Gegensatz zum Extremitätenmuskel mit großflächig über den Muskelquerschnitt verteilten Territorien. Funktionell hat dies zur Folge, dass innerhalb des individuellen Kaumuskels örtlich sehr unterschiedliche Kraftvektoren erzeugt werden können. Heterogene Aktivierbarkeit Weiterhin zeichnet sich die Kaumuskulatur durch eine ausgeprägte heterogene oder differenzierte Aktivierbarkeit aus, das heißt, der individuelle Kaumuskel kann regional unterschiedlich stark aktiviert werden. Ver- einfacht bedeutet dies, dass es sich um das Zusammenwirken vieler kleiner „Müskelchen“ in einem übergeordneten großen Muskel handelt. Dieser Kontrollmechanismus ge- währleistet eine extrem hohe feinmotorische Kompetenz, durch die an jedem beliebigen Punkt der Zahnreihe ein optimal wirksamer Kraftvektor erzeugt werden kann, der zu- sätzlich während des Kauakts noch fort- während angepasst werden muss [Blanksma et al., 1995; Blanksma et al., 1997; Schindler et al., 2006; Phanachet et al., 2003]. Neuroplastizität Wie die Muskulatur generell zeichnet sich auch die Kaumuskulatur durch eine aus- geprägte „Lernfähigkeit“ aus [Peck et al., 2010; Hellmann et al., 2011]. So kann schon kurzzeitiges Training die funktionel- len Eigenschaften langfristig modifizieren. Reparationspotenzial Die Kaumuskulatur besitzt ein effizientes Reparatursystem, das heißt muskeleigene Stammzellen (Satellitenzellen), die bei einer Mikroläsion innerhalb von Stunden aktiv werden [Korfage et al., 2005]. Dies ist für temporäre therapeutische Maßnahmen (zum Beispiel Okklusionsschienen oder Selbstübungen) von Bedeutung, die sowohl von der Plastizität des motorischen Systems als auch vom ausgeprägten Reparations- potenzial des Muskelgewebes profitieren. \ Kiefergelenke Neurobiologische Funktion und Biomechanik Die Funktion der Kiefergelenke im Kontext motorischer Aufgaben beschränkt sich im Wesentlichen auf biomechanische Führungs- eigenschaften, da die Gelenksensorik ent- gegen der landläufigen Meinung keine sig- nifikante Bedeutung für die motorische Steuerung des neuromuskulären Systems hat [Türker, 2002]. Das gängige Modell, dass die Kiefergelenke bei ihrer Führungs- funktion entlang der Fossa lediglich starr gleiten, ist jedoch auch eine unzulässige Vereinfachung. Vielmehr kommt es wegen des zwischen Kondylus und Fossa einge- betteten Diskus durch orthogonal zu den protrusiven Bewegungsspuren stattfindende Bewegungen des Kondylus relativ zur Fossa zu einem zusätzlichen Freiheitsgrad des Kondylus, bedingt durch die Interposition verschieden dicker Diskusanteile. Dieser erweiterte Bewegungsraum wurde in der Literatur bereits als „artikuläres Disklusions- potenzial“ beschrieben [Kubein-Meesenburg, 1985]. Die Größe dieser Orthogonalbewe- gung ist von den speziell vorliegenden geo- metrischen Verhältnissen sowie von dem momentan auf den Kondylus ausgeübten Kraftbetrag, der Kraftrichtung und seiner rotativen und translatorischen Bewegungs- komponente abhängig. Diese Variabilität Abbildung 2: Schema über die Wirkung von Schmerzen auf die motorische Kontrolle Quelle: Daniel Hellmann - modifiziert nach Hodges [Hodges, 2011] 48 Zahnmedizin

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