Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 08

zm 109, Nr. 8, 16.4.2019, (856) der Freiheitsgrade bedeutet allerdings zwangsläufig auch eine Einschränkung der Präzision bei der therapeutischen Positionie- rung der Kiefergelenke durch die jeweiligen prozeduralen Varianzen während der Regis- trierung der Kieferposition. Zu diesem kinematischen Phänomen addiert sich die ebenfalls belastungsabhängige elastische Verformung des diskalen Faserknorpels. Erklärungsmodelle für den Schmerz Die Grundlage für die Modellvorstellungen des myofaszialen und artikulären Schmerzes ist der Nozizeptorschmerz. In der Muskula- tur soll dieser durch Überlastung einzelner motorischer Einheiten ausgelöst und durch eine Vielzahl disponierender Faktoren be- günstigt werden. Als übergreifende patho- physiologische Erklärungsmodelle dienen das Mikrotrauma und die lokale Ischämie [Sessle, 1999] sowie deren klinische Ent- sprechungen – wie myofaszialer Trigger- punkt, lokale Muskelerschöpfung und Mus- kelkater. Den Vorstellungen ist gemeinsam, dass am Ende der Kausalkette die Freiset- zung Schmerz auslösender Substanzen aus beteiligten Gewebszellen sowie die über sie vermittelte Erregung von Nozizeptoren steht. In ähnlicher Form ist dies für die Kiefergelenkschmerzen zu interpretieren, die im Wesentlichen dem Modell einer un- spezifischen Arthralgie mit schmerzhaften artikulären Strukturen wie Ligamenten, Gelenkkapsel und retrodiskalem Gewebe und dem der aktivierten Arthrose folgen [Hugger, 2005]. Letztere beginnt in Form einer Mikroläsion, die über eine initiale Synovialitis und in deren Folge mit einer Sekretion von Zytokinen zur Ausschüttung von algetischen Substanzen aus den betei- ligten Geweben führt. Im Folgenden kann es dann zur Zerstörungen der Knorpel- matrix kommen. Anerkannte pathophysiologische Konzepte [DeBoever et al., 1994; Palla, 1998] unter- scheiden im Einklang mit der als multifakto- riell beschriebenen Genese dieser beschrie- benen muskuloskelettalen Beschwerden prädisponierende (zum Beispiel genetische, strukturelle, psychische), initiierende (zum Beispiel Mikro-, Makrotraumen) und perpe- tuierende (zum Beispiel stereotype Aktivitä- ten) Einflussfaktoren. Schonhaltung und motorische Adaptation Klinisch kommt es unter dem Einfluss von Schmerzen im kraniomandibulären System zu Verspannungsgefühlen in der Muskula- tur, einer eingeschränkten Unterkiefer- beweglichkeit [Magnusson et al., 2000] und einer mit diesen Befunden verbundenen subjektiven und objektiven Funktions- einschränkung [Pereira et al., 2009]. Die Er- klärung beruht darauf, dass es unter dem Einfluss von Muskel- und Gelenkschmerzen zu einer Veränderung der physiologischen Bewegungsabläufe hin zu Schonhaltungs- mustern kommt. Im Detail betrachtet be- schreibt das aktuelle Modell zur Schmerz- adaptation [Hodges, 2011; Hodges et al., 2011] eine schmerzbedingte Veränderung der intra- und intermuskulären Rekrutierungs- muster, die zu einer Versteifung der lädier- ten Strukturen und in der Folge zu einer Reduktion der Vielfalt und des Umfangs von Bewegungsmustern führt. Kurzfristig bewirkt eine durchaus sinnvolle Schienung der schmerzhaften Strukturen die Möglich- keit einer raschen Heilung. Bei länger anhal- tenden Schmerzzuständen kann es aller- dings unter solchen Bedingungen zu einer bleibenden Einschränkung der physiolo- gischen Bewegungsvielfalt kommen und daraus resultierend zu einer unphysiolo- gischen Belastung der beteiligten Gewebe – im Fall der sCMD nicht selten zu einem un- physiologischen Lastabtrag innerhalb der Kiefergelenke. Diese dauerhafte Etablierung von Schonhaltungsmustern wird vermutlich durch weitreichende Veränderungen auf verschiedenen Ebenen der Motormatrix ver- ursacht, was in der Folge auch eine erhöhte Gefahr für Rezidive und weitere schmerz- hafte Beeinträchtigungen bedeutet (Abbil- dung 2). Eine wesentliche Erkenntnis aus den darge- stellten Fakten für zeitgemäße therapeutische Strategien bei muskuloskelettalen Schmerzen ist die, dass eine Schmerzreduktion [Hodges et al., 1996] oder Entlastung der schmerz- haften Strukturen [Crossley et al., 2002; McGill, 2007; Hides et al., 1996] unter Um- ständen allein nicht ausreichend ist, um die erworbenen Schonhaltungen aufzulösen. Daher fordern moderne Therapiekonzepte ein, dass solche durch Schmerzadaptationen ausgelösten irreversiblen Koaktivierungs- muster durch aktive Rehabilitationsmaß- nahmen korrigiert werden, um so eine nor- male Koordination und uneingeschränkte Funktion wiederherzustellen [Crossley et al., 2002; Hides et al., 2001; Stuge et al., 2004]. An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass eine zahnärztliche Schienentherapie durch eine Begleittherapie mit aktiven Übungen des Patienten kombiniert werden sollte. In der neuen Heilmittelrichtlinie findet diese Erkenntnis darin Ausdruck, dass das Erlernen Abbildung 3: Reorganisation der intra- muskulären und der intra- artikulären Funktionsmuster Grafik: Tine Ade / Hans J. Schindler 50 Zahnmedizin

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