Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 12

zm 109, Nr. 12, 16.6.2019, (1393) implantären Krankheiten und Zuständen („World Workshop“) überprüfte die wissen- schaftliche Evidenz und kam zu vier wesent- lichen Schlussfolgerungen: 1. Es gibt keine Evidenz für eine spezifische Pathophysiologie, die eine Differenzierung von Fällen als „aggressive“ oder „chronische“ Parodontitis erlaubt oder eine Anleitung für verschiedene Arten von Interventionen gibt. 2. Es gibt wenig konsistente Evidenz dafür, dass aggressive und chronische Parodontitis verschiedene Krankheiten sind. Aber es gibt Evidenz dafür, dass multiple Faktoren und die Wechselwirkungen zwischen diesen die klinisch sichtbaren Krankheitsmanifestationen (Phänotypen) auf der individuellen Ebene beeinflussen. 3. Auf Bevölkerungsbasis sind die durch- schnittlichen mittleren Progressionsraten der Parodontitis über alle beobachteten Po- pulationen der Welt vergleichbar. Allerdings gibt es Hinweise dafür, dass bestimmte Be- völkerungsgruppen unterschiedliche Grade der Krankheitsprogression aufweisen. 4. Ein Klassifizierungssystem, das nur auf dem Schweregrad der Erkrankung basiert, erfasst wichtige Dimensionen der Krankheit eines Individuums – einschließlich der Kom- plexität (die die Therapieansätze beeinflusst) und der Risikofaktoren (die die Ausprägungen der Krankheit beeinflussen) – nicht. µ Es gibt keine Evidenz für eine spezifische Pathophysiologie, die eine Unterscheidung zwischen „aggressiver“ und „chronischer“ Parodontitis erlaubt. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde ein neues Klassifikationsschema für Paro- dontitis verabschiedet. Die Formen der Krankheit, die zuvor als „chronisch“ und „aggressiv“ bezeichnet wurden, werden nun unter der einzigen Kategorie der „Parodontitis“ beschrieben. Drei Formen von Parodontitis wurden identifiziert: 1. Parodontitis; 2. Nekrotisierende Parodontitis; 3. Parodontitis als direkte Manifestation sys- temischer Erkrankungen. Ein multidimensionales System von Stadien und Graden wurde entwickelt, um die ver- schiedenen Erscheinungsformen der Paro- dontitis im individuellen Krankheitsfall wei- ter zu beschreiben. Stadien beschreiben die Schwere und das Ausmaß der Erkrankung, Grade beschreiben die wahrscheinliche Progressionsrate. Klinische Definition der Parodontitis Parodontitis ist eine chronische, multifakto- rielle Entzündungskrankheit, assoziiert mit einem dysbiotischen Plaque-Biofilm und gekennzeichnet durch die fortschreitende Zerstörung des Zahnhalteapparats. Die Parodontitis ist durch eine Entzündung charakterisiert, die zum Verlust parodonta- len Attachments führt. Während die Bildung des bakteriellen Biofilms die Zahnfleisch- entzündung auslöst, ist die Erkrankung Parodontitis durch drei Faktoren gekenn- zeichnet: - den Verlust des Zahnhalteapparats, er- kennbar durch klinischen Attachmentver- lust (clinical attachment loss – CAL) und röntgenologisch sichtbaren Knochenabbau, - das Vorhandensein parodontaler Taschen, - gingivale Blutung. Aktuelle Erkenntnisse belegen multifakto- rielle Krankheitseinflüsse – einschließlich des Rauchens – auf zahlreiche immunentzünd- liche Reaktionen. Dies macht dysbiotische Veränderungen des Mikrobioms bei einigen Patienten wahrscheinlicher als bei anderen und kann den Schweregrad der Erkrankung für solche Personen beeinflussen. Ein Parodontitis-Klassifizierungssystem soll- te drei Komponenten beinhalten: - die Identifizierung eines Patienten als Parodontitisfall, - die Identifizierung der spezifischen Art der Parodontitis, - die Beschreibung des klinischen Erschei- nungsbildes und anderer Elemente, die sich auf die klinische Behandlung, die Prognose auswirken und die Beschreibung potenziell weiterer Einflüsse auf die Mundgesundheit und die systemische Gesundheit. Im Rahmen der klinischen Versorgung liegt ein Parodontitis-Fall dann vor, wenn der Ver- lust von parodontalem Stützgewebe durch Entzündung das Hauptmerkmal ist. Klinischer Attachment-Verlust wird durch eine umfas- sende Messung aller Zähne mit einer stan- dardisierten Sonde in Bezug zur Schmelz- Zement-Grenze (SZG) bestimmt. µ Ein Klassifizierungs-System muss Komplexität und Risikofaktoren beinhalten. Ein Patient ist ein Parodontitis-Fall, wenn: - ein interdentaler CAL an mindestens zwei nicht benachbarten Zähnen erkennbar ist, oder - ein bukkaler/oraler CAL von mindestens 3 mm mit einer Taschentiefe von größer als 3 mm an mindestens zwei Zähnen erkenn- bar ist, und - der beobachtete CAL nicht auf nicht- parodontale Ursachen zurückgeführt wer- den kann, wie zum Beispiel: 1. eine gingivale Rezession traumatischen Ursprungs; 2. Karies, die sich bis in den Zahnhals- bereich erstreckt; 3. das Vorhandensein von CAL an der dis- talen Fläche eines zweiten Molaren, ver- bunden mit der Fehlstellung oder Extraktion eines dritten Molaren; 4. eine endodontischen Läsion, die Abfluss durch das marginale Parodontium hat; 5. das Vorhandensein einer vertikalen Wur- zelfraktur. Messung des klinischen Attachment- Verlusts (CAL) Angesichts des Messfehlers von CAL mit einer Standard-Parodontalsonde ist bis zu einem gewissen Grad eine Fehlklassifizie- rung des Anfangsstadiums der Parodontitis unvermeidlich und dies wirkt sich auf die diagnostische Genauigkeit aus. Es wird anerkannt, dass je nach Qualifikation des Untersuchers (zum Beispiel Spezialist oder Allgemeinpraktiker) und nach den lokalen Umständen, die die Identifizierung der SZG erleichtern oder erschweren können (insbe- sondere die Lage des Gingivarandes in Be- zug auf die SZG, das Vorhandensein von Zahnstein, Restaurationsränder), der „er- kennbare“ Verlust interdentalen Attachments unterschiedlich ausfallen kann. 75

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