Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 13
zm 109, Nr. 13, 1.7.2019, (1481) \ Die WHO empfiehlt darüber hinaus eine Reduktion der Einnahme freier Zucker auf weniger als fünf Prozent der zugeführten Gesamtenergiemenge (bedingte Empfeh- lung). Das Bemerkenswerte daran ist, dass die Ernährungsempfehlung der Reduktion freier Zucker auf weniger als zehn Prozent nicht etwa auf Studien zu Übergewicht oder Diabetes gründet, sondern sich aus Kariesstudien ableitet. Die Gesamtheit der publizierten Kariesstudien hat dabei eine mittlere Evidenz, die nach Auffassung der WHO aber ausreicht, um eine solche starke Empfehlung zu geben. Die Tatsache, dass eine weitere Reduktion freier Zucker auf weniger als fünf Prozent der Gesamt- energiemenge nur bedingt empfohlen werden kann, liegt an der geringen Evidenz derjenigen klinischen Kariesstudien, die eine Dosis-Wirkung-Beziehung untersucht haben. Eine kurze Literatursuche in PubMed mit den addierten MeSH-Suchbegriffen „dental caries“ AND „sugars“ identifizierte 1.851 Studien, die seit 1948 publiziert wurden (Zugriff: April 2019). Für den gleichen Zeitraum wurden für die Suchbegriffe „obesity“ (Fettleibigkeit) AND „sugars“ mehr als die zehnfache Menge an Studien identifiziert, nämlich 19.373. Den- noch werden von der WHO explizit die zahnmedizinischen Studien als Grund für die Empfehlung der Zuckerreduktion in der Ernährung angeführt. Freie Zucker und Gesamtenergiemenge Um die Patienten entsprechend aufklären und beraten zu können, sollten wir als Zahn- ärzte wissen, was mit freien Zuckern und Gesamtenergiemenge gemeint ist. Per defi- nitionem sind dies alle Mono- und Di- saccharide, die Speisen und Getränken vom Hersteller, Koch oder Konsumenten zuge- setzt werden. Unter freien Zuckern versteht man aber auch diejenigen Zucker, die natür- licherweise in Honig, Sirups, Fruchtsäften oder Fruchtsaftkonzentraten vorkommen. Eine Übersicht über die gängigen Zucker- arten gibt Tabelle 1. Die Gesamtenergiemenge bezeichnet die Summe aller zugeführten täglichen Kalorien durch Speisen und Getränke. Die Energie kommt dabei von den Makronährstoffen wie Fett (9 kcal/g), Kohlenhydraten (4 kcal/g) inklusive der Gesamtzuckermenge (freie Zucker plus intrinsische Zucker plus Milchzucker), Protein (4 kcal/g) und Alkohol (7 kcal/g). Die Gesamtenergiemenge er- rechnet sich aus dem addierten Gewicht der jeweiligen Makronährstoffe in Speisen und Getränken. Ein Prozentsatz der Gesamt- energiemenge bezieht sich also auf die täg- lich zugeführte Kalorienanzahl. Auf dieser Formel basieren die unzähligen Diät-Apps, die zum Download bereitstehen. Zucker aus der Perspektive des Zahnarztes Aus kariologischer Sicht ist es gleichgültig, ob der Zucker weiß ist oder braun, zuge- setzt oder natürlich vorkommend. Der kariogene Biofilm hat keine Präferenzen bezüglich der Herkunft der Zucker, sondern er verstoffwechselt einfach das, was das Ernährungsangebot hergibt. In einer In-situ- Studie wurde die Wirkung von ganzen Früchten und ihren Fruchtsäften auf die Entstehung initialer kariöser Läsionen im Schmelz untersucht [Issa et al., 2011]. Die Autoren fanden keinen messbaren Unter- schied zwischen den Gruppen. Von den wenigen klinischen Zuckerstudien in Bezug auf Karies ist sicher die Vipeholm- Studie (1945–1954) am bedeutendsten [zusammengefasst in Krasse, 2001]. Diese Studie wurde mit einer großen Fallzahl an Menschen durchgeführt und würde heute aufgrund der bewusst in Kauf genommenen Schädigung argloser Probanden von jeder Ethikkommission abgelehnt werden. Den- noch seien an dieser Stelle die wichtigsten Beobachtungen wiedergegeben: \ Die Häufigkeit der Einnahme von Zucker hat eine größere Bedeutung für die Karies als die absolute Menge. \ Klebrige Süßigkeiten verursachen mehr Karies als lösliche. \ Auch bei geringem Zuckerkonsum kann Karies entstehen. \ Es gibt interindividuelle Unterschiede bei der Kariesausprägung. Nomenklatur der Kohlenhydrate [nach Moynihan 1998] Monosaccharide Disaccharide Natürliche und künstliche Oligosaccharide (3–10 Einheiten) Polysaccharide (> 10 Einheiten) Tabelle 1 Quelle: Klaus W. Neuhaus [nach Moynihan, 1998] Glukose (Dextrose) Fruktose (Fruchtzucker) Galaktose Invertzucker Saccharose Maltose Laktose (Milchzucker) Trehalose (Pilzzucker) Stärke 43
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