Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 13
zm 109, Nr. 13, 1.7.2019, (1446) TI – „Digitalisierung“ ist nichts anderes als Neusprech für Zwangsvernetzung \ Zum Leitartikel „Weitere Sanktionen sind definitiv der falsche Weg“, zm 11/2019, S. 6, den Artikeln „TI-Anbindung: Die Zeit läuft ab“, zm 11/2019, S. 20, und „Spahn legt Referentenentwurf zur digitalen Versorgung vor: Drastische Sanktionen für TI-Verweigerer“, zm 11/2019, S. 22–24, sowie zu den Leserbriefen: „TI – Zwang überzeugt grundsätzlich nicht!“ von Dr. K. Ulrich Rubehn und „TI – Folgt nun die Verhöhnung der Freiberufler?“ zm 11/2019, S. 8–9. In der Berichterstattung und der Diskussion zur Telematikinfra- struktur (TI) fällt die ständige Nutzung eines manipulativen Wordings auf: „Digitalisierung“. Ein Begriff, der hier eine bloße politische Worthülse darstellt, die eigentlich „Zwangsvernetzung“ meint. Zahnarztpraxen sind heute bereits in erheblichem Umfang digitalisiert – viele haben seit Jahrzehnten nicht nur eine EDV mit elektronischen Patienten- akten im Einsatz, sondern nut- zen die Vorteile des digitalen Röntgens, moderner CAD/CAM- Verfahren zur Herstellung von Zahnersatz und zahlreicher anderer digitaler Gerätschaften, die den Arbeitsalltag in der Praxis vereinfachen oder einen diagnostischen und/oder thera- peutischen Nutzen für den Patienten haben. Ich kenne eigentlich keinen TI- Verweigerer, der etwas gegen sinnvolle, im Praxisalltag hilf- reiche Digitalisierung hätte. Aber was bietet uns am 01. Juni 2019 die „Digitalisierung“ mittels „TI“ tatsächlich? Ein „VSDM“ (Ver- sicherten-StammdatenManage- ment), das Zahnärzte für die Krankenkassen kostenfrei durch- führen, aber von dem die Praxis bei teilweise erhöhtem perso- nellem Aufwand keinerlei Wert- schöpfung erfährt. Mehr nicht. Vertröstet werden wir daher seit Jahren mit Hinweisen auf die vielen sinnvollen und ganz tollen Anwendungen einer goldenen TI-Zukunft mit „echtem Mehr- wert“, wie z. B. einer eAU, die aber trotzdem noch ausgedruckt werden soll, eines eMedikations- plans, den der mündige Patient bereits jetzt analog mit sich führt, sowie einer ePA, deren zahnmedizinische Funktionalität sich im Entwurf zum „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ (Digitale Versorgung-Gesetz, DVG) auf die Abrufbarkeit des zahnärztlichen Bonusheftes beschränkt – mit Verlaub, das ist lächerlich. Für diese bisher absolut sinnlose „Digitalisierung“ braucht es in der Tat Zwang, denn damit kann man niemanden wirklich über- zeugen. Aber das ficht die Politik nicht an: Lieber stellt man die TI- Verweigerer in die Ecke der ewig gestrigen Fortschrittsverweigerer im Tal digitaler Ahnungslosigkeit. Und lieber werden auftretende und ungeklärte Probleme der An- bindung und des Datenschutzes einfach ignoriert. Daran ändern auch mediale Berichte über Sicherheitslücken nichts. Statt- dessen wird die gesetzliche Sanktionierung drastisch erhöht und die selbstständigen „Frei- berufler“ wie subalterne „Dienst- boten“ eines Systems behandelt, dessen tragenden Säulen sie eigentlich sind. Das mag man zu Recht als „Verhöhnung“ des freien Berufes empfinden. Die „drastischen Sanktionen für TI-Verweigerer“ zeigen indes, dass der Minister und seine Getreuen vom anhaltenden Widerstand von Zahnärzten, Ärzten und Psy- chotherapeuten ziemlich über- rascht wurden. Denn es müssen offenbar noch viel mehr Praxen angeschlossen sein, damit die Zwangsvernetzung der Heil- berufler für Politik und Kranken- kassen sinnvoll funktioniert. Des- halb wird Nichtteilnahme noch stärker sanktioniert. „Die wollen ein umfangreiches Praxis-Über- wachungssystem mit Zeitstempeln installieren“, soll Hamburgs KV- Chef Walter Plassmann vor kurzem in einer Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg erklärt haben. Ja, dann machen die TI und der Anschluss- zwang mit drastischen Sanktio- nen auf einmal Sinn und der Begriff „Digitalisierung“ wird als Framing eingesetzt, um nicht von Zwangsvernetzung und Big Data sprechen zu müssen. In George Orwells Roman „1984“ nannte man das „Neu- sprech“. Das ist das eigentlich Beängstigende. Dr. Thomas Weber, Krumbach TI – Die intrinsische Motivation erodiert! \ Zur Thematik TI Als Erstes darf ich mich outen: Wir sind an die TI angeschlossen, und ich kann fast alle bisherigen Klagen aus der Community bestätigen. Deshalb bin ich von der TI alles andere als begeistert – verstehe aber auch, dass wir uns einer digitalisierten Struktur langfristig nicht ver- weigern können. Mir geht es um etwas anderes. Aufgrund der längst etablierten Misstrauenskultur sowie der konse- quenten Ökonomisierung und Entmündigung imGesundheitswesen fühle ich mich zunehmend geneigt, „Dienst nach Vorschrift“ zu machen (die Gewerkschaften haben das ja vor langer Zeit einmal vorgemacht, und warum sollte es ausgerechnet in den MVZs anders kommen?). Der Beruf selbst bereitet mir nach etlichen Jahren immer noch sehr viel Freude – die Bedingungen der Berufsausübung zunehmend weniger. Damit ich nicht missverstanden werde: ich bin keinesfalls gegen Engage- ment – nur gegen Selbstausbeutung. Auch nicht gegen Fortbildung (im Gegenteil!) – nur gegen die bürokratischen Nachweise. Die Auf- zählung ließe sich problemlos fortsetzen. Aber wenn die intrinsische Motivation der KollegInnen erst einmal erodiert ist – was dann? Bis dahin tröste ich michmit folgendem Bonmot: „Die normative Kraft des Fak- tischen ist immer stärker als die faktische Kraft des Normativen.“ P.S.: Ich habe bei der KZV meinen letzten Fortbildungsnachweis ein- gereicht – es wird definitiv keiner mehr folgen. Ich entscheide selbst, wann ich die Kassenzulassung zurückgeben werde. Dann brauche ich auch keine TI mehr. Und ich werde nicht der Einzige sein ... Dr. Wolfgang Carl, St. Ingbert 8 Leserforum
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