Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 14
zm 109, Nr. 14, 16.7.2019, (1592) das Kariesrisiko. Ausgehend von den Ergeb- nissen der Vipeholm-Studie wurde lange Zeit auch und vor allem außerdem die Fre- quenz der Zuckerzufuhr thematisiert [Gus- tafsson et al., 1954]. Neuere Daten nähren jedoch Zweifel an der Bedeutsamkeit der Frequenz der Zuckerzufuhr [Moynihan et al., 2014]. Da jedoch beides, Frequenz und aufgenommene Menge, oftmals miteinan- der korrelieren, ist ein Zusammenhang bei- der Variablen mit dem Karieszuwachs wahr- scheinlich. Fluoride, zum Beispiel als In- haltsstoffe von Zahnpasten, können den beobachteten Zusammenhang zwischen Zuckerzufuhr und Karieszuwachs drama- tisch abschwächen, aber nicht aufheben [Moynihan et al., 2018; Moynihan et al., 2014; Bernabe et al., 2016]. Der zugrundeliegende pathogenetische Zu- sammenhang zwischen Zucker und Karies ist allgemein bekannt. Aber auch für die Parodontitis wird eine hohe Zuckerzufuhr mittlerweile als Risikofaktor angesehen. So führt Glykämie zu oxidativem Stress und zu einer Akkumulation von sogenannten ad- vanced glycation end products (AGEs), die die oben beschriebene Hyperinflammation bedingen. Eine sinnvolle Begrenzung der Zuckerzufuhr ist also allgemeinmedizinisch, kariologisch und parodontologisch geboten [Chapple et al., 2017]. Maßnahmen zur Begrenzung der Zuckerzufuhr Eine solche Begrenzung kann durch zahl- reiche Maßnahmen – allerdings mit unter- schiedlichem Erfolg – erreicht werden. Diese werden in Tabelle 1 zusammengefasst. Zahnarzt-bezogene Interventionen Um in der zahnmedizinischen Praxis (indi- vidualprophylaktische) Maßnahmen zur Begrenzung der Zuckerzufuhr erreichen zu können, sollte zunächst die zahnmedizinische Ausbildung in diesem Bereich angepackt werden: Zahnärzte, aber auch das zahnärzt- liche Assistenzpersonal sollten in der Lage sein, Grundregeln der Ernährungslehre sowie aktuelle Ernährungsleitlinien zu vermitteln, den Zusammenhang zwischen Zuckerzufuhr und allgemeinen und zahnmedizinischen Erkrankungen zu erklären [Moynihan et al., 2018], Ernährungsempfehlungen für spezielle Risikogruppen (kleine Kinder, Senioren) ab- zugeben und schließlich Verhaltensände- rungen zu erwirken [Moynihan et al., 2018]. Gerade der letzte Punkt ist nicht einfach – wir alle wissen spätestens Mitte Januar, wie schwierig es ist, die an Silvester vorgenom- menen Verhaltensänderungen umzusetzen! Gerade die geringe Wirksamkeit individual- prophylaktischer Maßnahmen zur Verhaltens- änderungen [Harris et al., 2012] sollte aber Ansporn sein, in diesem wichtigen Bereich aufzuholen! Wenn Zahnmediziner und ihr Team zukünftig „Gesundheitsmanager“ sein sollen beziehungsweise wollen, wird dieser Bereich zunehmend wichtig werden! Eine wirksame Maßnahme zur Verhaltens- änderung sollte möglichst theoretisch (psy- chologisch) fundiert sein; dabei sollte der Transport von „Informationen“ (Aufklärung) nur ein (kleinerer) Baustein sein. Oft sind die Gesundheitsrisiken schädigenden Verhaltens ja bekannt und werden trotzdem ignoriert. Natürlich kann gerade bei der Frage, wo denn überhaupt Zucker enthalten ist, noch Aufklärung geleistet werden; die Zucker- zufuhr wird ja nicht überwiegend als Haus- haltszucker, sondern versteckt als Milch- zucker, Malzextrakt, Glukosesirup oder Fruchtzucker realisiert. Wichtiger scheint je- doch – gerade wenn Verhalten langfristig geändert werden soll – das Verstehen dieses Verhaltens und seiner zugrundeliegenden Treiber im Alltag. Dies erlaubt, ganz gezielt, diesen Alltag zu restrukturieren beziehungs- weise motivierende Faktoren anzusprechen. Maßnahmen der Selbstüberwachung (hierzu werden zunehmend Apps untersucht und empfohlen) oder das Aufzeigen weniger schädlicher Alternativen können hier sinn- voll sein [Vezina-Im et al., 2017]. Zudem sollte betont werden, dass Zucker sowohl für zahnmedizinische als auch für allgemein- medizinische Erkrankungen ein wichtiger Risikofaktor ist (gemeinsamer Risikofaktoren- ansatz) [Sheiham und Watt, 2000]. Alternativen zu herkömmlichen Zuckern (Saccharose, Glukose, Laktose, Fruktose) sind Zuckeraustausch- und Zuckerersatz- stoffe. Zu den Zuckeraustauschstoffen ge- hören Sorbit, Mannit, Xylit und Maltit, also Zuckeralkohole (Polyole). Diese sind kalorisch wirksam, haben jedoch weniger Energie als herkömmliche Zucker. Sie sind allerdings teilweise auch weniger süß; Sorbit süßt nur etwa halb so stark wie Saccharose. Xylit erreicht hingegen die Süßkraft von Saccharose. Bei einer hohen Zufuhr führen Zuckeralkohole zu Nebenwirkungen wie Durchfällen. Das am besten untersuchte Zuckeralkohol ist Xylit; es ist nicht kariogen und reduziert die Streptococcus-mutans- Speichelkonzentration [Burt, 2006]. Zuckerersatzstoffe sind kalorienarme oder -freie Süßstoffe, die deutlich stärker süßen als Saccharose. Verbreitet sind Aspartam, Zyklamat und Saccharin. Saccharin hat bei- spielsweise die 300- bis 500-fache Süßkraft von Saccharose. Die Bedenken, Zucker- ersatzstoffe seien karzinogen, führten zu Ver- boten dieser Stoffe in einigen Ländern; die Bedenken konnten bisher nicht wissenschaft- lich eindeutig belegt werden [Weihrauch und Diehl, 2004]. Ein recht „junger“ Zucker- ersatzstoff wird aus dem Extrakt der Stevia- pflanze gewonnen. Zahnarztbezogene Interventionen zur Re- duktion der Zuckerzufuhr stehen demnach zwar zur Verfügung, sind jedoch nur be- grenzt wirksam [Harris et al., 2012]. Der Ein- satz von Zuckeraustauschstoffen wie Xylit könnte sinnvoll sein [Riley et al., 2015]. Das entscheidende Argument, warum diese Maßnahmen allein jedoch unzureichend sind, liegt im zahnärztlichen Inanspruchnahme- verhalten begründet: Hochrisikoindividuen gehen nur unregelmäßig zum Zahnarzt. Gerade die, die erreicht werden müssten, stehen für individualprophylaktische Maß- nahmen im Zahnarztstuhl seltener zur Verfügung [Reda et al., 2018; Reda et al., 2018b]. Lokale Umweltbedingungen optimieren Aus diesen Überlegungen heraus werden seit Längerem andere, auf ganze Bevölke- rungsgruppen (Schulen oder Schulklassen, Betriebe) statt auf einzelne Individuen ab- zielende Maßnahmen diskutiert. Schul- basierte Programme, bei denen vor allem die Aufklärung der Kinder im Vordergrund steht, wurden durch mehrere Studien unter- sucht. Diese sind initial relativ wirksam zur 46 Fortbildung Ernährung und Mundgesundheit
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