Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17

zm 109, Nr. 17, 1.9.2019, (1838) Auch heute darf man noch über die Erfolge der Implantologie in den vergangenen 40 Jahren staunen: Eine Metallschraube mit Kontakt zur Mundhöhle wächst im Kiefer ein und verhilft dem Empfänger zu neuer Lebensqualität. Aus einer belächelten Nischendisziplin wurde eine wissenschaft- lich anerkannte Versorgungsform der chi- rurgischen Zahnheilkunde. In Deutschland werden mittlerweile jährlich bis zu einer Million Implantate gesetzt. Die Einheilungs- quoten erreichen – nach validen Unter- suchungen – mehr als 95 Prozent. Wie bei allen jungen Disziplinen war die Indikation zunächst sehr eingeschränkt und wurde nach und nach erweitert. Heutzutage darf auch eine junge Patientin mit einem korrekt eingestellten und überwachten Dia- betes Mellitus die Vorzüge eines Implantats erfahren – und viele ältere Patienten auch. Hier und heute trifft aber Implantologie auf Rheumatologie – Kompromiss oder Konfrontation? Im vorliegenden Fall stehen M. und ihr Zahnarzt nach dem Verlust der beiden Einzelzahnimplantate vor der Frage, welche Therapie nun richtig ist: Kann eine abermalige Implantation erwogen werden, wenn jeder- zeit ein Schub der Grunderkrankung droht? Oder kann man die Wissenschaft heranziehen und darauf verweisen, dass wenig über die Interaktion zwischen Osseointegration und rheumatischem Formenkreis bekannt ist? Und ist deshalb „Pragmatismus mit sittlicher Haltung“ gefragt, wie der verstorbene ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Maxime seines politischen Handelns genannt hat? Die Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress kann hier als Kompass dienen. Die Schlüsselfragen berücksichtigen die Patientenautonomie (und damit das Selbst- bestimmungsrecht), das Nichtschadens- gebot, das Wohl des Patienten sowie die Ge- rechtigkeit des Vorgehens dem Einzelnen und der Solidargemeinschaft gegenüber. Natürlich ist die Patientenautonomie und damit der Behandlungswunsch von M. von besonderer Bedeutung. Gerade bei rheuma- tischen Erkrankungen spielt die psychische Stabilität des Patienten eine besondere Rolle, weiß er doch von seinem chronischen Leiden und dass eine vollständige Heilung nicht zu erwarten ist. Man kann mit Recht davon sprechen, dass in der heutigen Zeit eine „Verbraucherschutzmentalität“ auf allen Gebieten unserer Gesellschaft im Vormarsch ist, deren zentraler Punkt sich um die Frage dreht, wer die Verantwortung für die eigene Situation trägt. Gleichzeitig wird in der Medizin dem Patientenwunsch eine immer höhere Priorität eingeräumt. Doch M. muss nach dem Verlust der beiden Implantate die Bedenken ihres Hauszahnarztes stärker be- rücksichtigen. Dr. L. trägt jetzt eine höhere Verantwortung, auch weil seine Entscheidung als Experte im Zweifelsfall besonders kritisch hinterfragt werden könnte. Das Nichtschadensprinzip (Non-Malefizienz) zeigt das Dilemma besonders deutlich: Was ist, wenn die erneute Implantation wieder mit dem Verlust endet? Da die beiden ersten Implantate während eines Rheuma-Schubes verloren gingen und eine Verschlechterung des Krankheitsbildes jederzeit droht, sollte jedes Risiko, das mit einem chirurgischen Eingriff verbunden ist, vermieden werden. Kommentar von Dr. Giesbert Schulz-Freywald „Der ethisch denkende Zahnarzt sollte zu einer konventionellen Versorgung raten“ Gerade vor dem Hintergrund eines bereits erfolgten Implantatverlusts ist abzuwägen, ob das Risiko eines erneuten Scheiterns der Behandlung – was eine erneute finanzielle Belastung nach sich zieht – vertretbar ist oder eine möglicherweise „sicherere“ The- rapieoption im Sinne einer konventionellen Brückenversorgung gewählt wird. Nicht zu vergessen sind auch die Interessen von Dr. L. – gelangt er zur Einsicht, eine neuerliche Implantation sei nicht zu verantworten, ist ihm der Eingriff auch bei einem unbeding- ten Wunsch der Patientin nach dieser Ver- sorgung nicht zuzumuten. Fazit/Handlungsempfehlung: Nach Abwägung der einzelnen Prinzipien sollte Dr. L. seine Patientin sowohl über die möglichen Hintergründe der geringen Da- tenlage zur Implantattherapie bei Patienten mit einer Grunderkrankung aus dem rheu- matischen Formenkreis und über die auftre- tenden Risiken beim erneuten Implantieren wie auch über die Behandlungsalternativen aufklären. Sollte sie danach weiterhin im Sinne eines Informed Consent eine ent- sprechende implantatprothetische Versor- gung favorisieren, steht deren Durchführung – sofern Dr. L. dies für sich verantworten kann – nichts im Weg. Mit diesem Vorgehen sind sowohl die Pa- tientenautonomie als auch das Benefizienz- prinzip gewahrt. Die Gewichtung des Nicht- schadensgebot kann in diesem Fall relativiert werden, da zwar das Risiko eines Schadens besteht, dieser aber nicht zwingend ein- treten muss. Oberfeldarzt Dr. André Müllerschön Sanitätsversorgungs- zentrum Neubiberg Werner-Heisenberg- Weg 39 85579 Neubiberg andremuellerschoen@ bundeswehr.org Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Zentrum für Militär- geschichte und Sozial- wissenschaften der Bundeswehr Zeppelinstr. 127/128 14471 Potsdam vollmuth@ak-ethik.de Foto: privat Foto: Bayer 52 Zahnmedizin

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