Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm 109, Nr. 21, 1.11.2019, (2432) mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder Gewalterfahrungen umgegangen, wie sehen Sterbebegleitung, Trauer und Abschiedsrituale aus? 5. Der Umgang mit Schmerz Ein Beispiel: Patienten mit Fluchthinter- grund leiden oftmals unter posttraumati- schem Stress mit Symptomen wie Schlafstö- rungen, innerer Unruhe, Reizbarkeit oder Bluthochdruck. Hier hilft beispielsweise eine kultursensible Diagnostik, wenn möglich durch muttersprachliche Untersucher oder unter Einbindung von Kultur- und Sprach- mittlern. Beispiel Tod und Trauer: Entscheidend ist für den westlich geprägten Behandler, dasss er die kulturübliche und religiöse Betreuung im Sterbefall kennt. Dazu gehören im Islam die Begleitung durch Familie, Freunde und Bekannte genauso wie durch die religiöse Gemeinde, ebenso Sterberituale wie etwa das Glaubensbekenntnis, die richtige Lage- rung des Sterbenden und die religiöse Wa- schung. Fragen Sie am besten offen die Angehörigen, was zu beachten ist. pr Dr. Thomas Heil, Zahnarzt und Teilnehmer am Modellprojekt, erzählt, wie die Modul-Inhalte im zahnärztlichen Praxisalltag angewendet werden können: ! Zur Haltung: Die Prägung durch unsere Eltern hat bei uns allen ihre Spuren hin- terlassen. Die Worte meines Vaters, „Sage bitte guten Tag und gib brav die Hand!“ klingen immer noch in meinen Ohren. Was die Höflichkeit gebietet, aber aus hygienischen Gründen in den Praxen teilweise hinterfragt wird, kann im Kontakt mit fremden Kulturen manchmal einen ganz handfesten Konflikt auslösen. In einigen Kulturkreisen darf zum Beispiel eine Frau einem männli- chen Nichtfamilienmitglied auf keinen Fall die Hand geben. Ein respektvoller Umgang und eine etwas zurückhaltende, die andere Geste übernehmende Begrüßung können da helfen. ! Zur Kommunikation: Die Kommunikation zwischen Mann und Frau ist manchmal schon nicht einfach, und wenn wir unseren Kindern etwas erklä- ren wollen, suchen wir nach den richtigen Worten, um verstan- den zu werden. Jetzt sitzt vor Ihnen ein Mensch, der Sie sprachlich und fachlich nicht versteht. Die Übersetzung wird in der Regel geleistet durch Familienangehörige, Kinder, Partner oder Freunde und ganz selten durch professionelle Dolmetscher. Ein übertrie- benes Beispiel zur Veranschaulichung: Eine 50-jährige Zahnärztin untersucht einen 30-jährigen, nicht heimatsprachlichen Mann und übersetzt wird durch seine achtjährige Tochter. Alltägliche Situation! Kulturelle, sprachliche, geschlechtliche und große Altersunterschiede bei der individuellen Bewertung und Interpre- tation von Sprache. Das Kinderspiel „Stille Post“ lässt grüßen. Hier hilft nur eine einfache Sprache weiter. Benutzen Sie Gesten, Bilder und Zeichnungen. Man muss den Dschungel der Fachspra- che verlassen und versuchen, sich selber der aktuellen Situation anzupassen. ! Zu Krankheitsverarbeitungen: Symptom- oder Schmerzbeschreibungen fallen bereits bei uns Heimatsprachlern sehr unterschiedlich aus. Jeder Patient empfindet Schmerz anders. Kulturelle Prägungen können dies noch enorm verstärken. Es gibt Kulturkreise, in denen eine kleine Aphthe als den Alltag stark einschränkend empfunden wird, und in andere Kreisen wirdman selbst mit einemdieMundöffnung einschränkenden Abs- zess noch angelächelt. Es wäre eben unhöflich, nicht zu lächeln. Dies sind jetzt zwar zwei beschriebene Extreme, aber der Behandler steht hier immer wieder vor der Aufgabe, durch gezielte Fragestel- lungen, zusammen mit den objektivierbaren Befunden, die richtige Diagnose zu stellen. Manchmal muss man in seinen Fragen halt kleine Fallen einbauen, um zum richtigen Ziel zu gelangen. ! Zu Gender und Familie : Die Wertigkeit und der Stellenwert der Familie sind in vielen Kultur- kreisen sehr unterschiedlich. Dadurch kann es durchaus vorkom- men, dass einem der Patient nicht alles erzählt, was eigentlich zur Behandlung seiner Krankheit vonnöten wäre. Es gibt Kulturkreise, in denen der Arzt mit zur Familie zählt, und in der Familie werden Peinlichkeiten vermieden oder unangenehme Sachen einfach nicht berichtet. Aber gerade diese unangenehme Krankheit, mit ih- rer notwendigen Medikation, könnte in der aktuellen Behandlung Probleme erzeugen. Beim Erheben einer Anamnese hilft es manch- mal, diese mit anderen Behandlern abzugleichen oder doch noch mal beim Patienten oder seiner Familie gezielt nachzuhaken. ! Zum Umgang mit Gewalt, Trauma, Schmerz, Tod und Trauer: Trauma – ein wichtiges Thema. Was ein Mensch in seinem Leben alles erleben musste, ist nicht immer im Lebenslauf oder Anamne- sebogen zu finden. Es kann vorkommen, dass ein Geräusch bei ei- ner Behandlung, das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen beim Abdruck, bei einer Extraktion eines Zahns amKopf umklammert zu werden, eine Erinnerung beim Patienten wieder aufleben lässt, auf die wir alle mehr als gerne verzichten wollen. Reagieren Sie auf für uns als Behandler nicht erklärbare Reaktionen des Patienten gelas- sen. Hinterfragen Sie die Reaktion beim Dolmetscher oder Ange- hörigen. Wissen hilft, zu verstehen. Verstehen hilft, mit unge- wöhnlichen Situationen umgehen zu können. Dr. Thomas Heil ist Mitglied des Vorstandes der Zahnärztekammer Nordrhein und Referent für die Ausbildung zur ZFA. Beispiele aus der Zahnarztpraxis Foto: ZÄK Nordrhein 86 Praxis

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