Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22
zm 109, Nr. 22, 16.11.2019, (2560) Herr Dr. Quentin, KBV-Chef Andreas Gassen hat Wahltarife für ein Primärarztmodell in Deutschland ins Gespräch gebracht. Was halten Sie von einer solchen Forderung? PD Dr. Wilm Quentin: Primärarztmodelle oder Hausarztmodelle wurden in Deutsch- land bereits im Jahr 2004 mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Kran- kenversicherung (GMG) eingeführt. Damals wurden die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) dazu verpflichtet, ihren Versicherten Modelle der hausarztzentrierten Versorgung anzubieten. Dabei wählen Versicherte eine Hausarztpraxis als primären Ansprechpart- ner für alle medizinischen Probleme und verpflichten sich für mindestens ein Jahr immer zuerst diese Hausarztpraxis aufzu- suchen. Wenn nötig, überweist die Praxis zu einer Fachärztin oder einem Facharzt. Damit wird der Hausarzt zum Lotsen für den Pa- tienten, der die Versorgung steuert – gleich- zeitig aber auch zum Pförtner (Gatekeeper), da Patienten ohne Überweisung keinen Facharzt aufsuchen können. Allerdings sind einige Ärzte, etwa Frauenärzte, Kinderärzte oder Augenärzte, von der Überweisungs- pflicht ausgenommen. Die hausarztzentrierte Versorgung soll durch eine bessere Koordination der Leistungs- inanspruchnahme die Qualität erhöhen und gleichzeitig unnötige Untersuchungen und damit unnötige Kosten verhindern. In- zwischen sind in Deutschland laut Haus- ärzteverband rund 5,4 Millionen Versicherte in der hausarztzentrierten Versorgung ver- sichert. Mit dem Terminservice- und Versor- gungsgesetz (TSVG) wurden Krankenkassen vor einigen Monaten verpflichtet, ihren in Hausarztmodellen eingeschriebenen Versicherten Prämienzahlungen oder Zu- zahlungsermäßigungen anzubieten, wenn Hausarztmodelle für Kassen zu Kostenein- sparungen führen. Wie wirkt sich Gatekeeping auf die Gesundheitskosten im europäischen Ausland aus? In der Mehrzahl der Länder in Europa ist die hausarztzentrierte Versorgung die Regel- versorgung, so unter anderem in den Nie- derlanden, in Dänemark oder in England. Hausärzte sind in diesen Ländern die Ein- trittspforte ins Gesundheitssystem und fun- gieren somit als Gatekeeper. Mir sind keine aktuellen Studien aus diesen Ländern be- kannt, die sich mit der Frage beschäftigen, ob eine Abschaffung des Gatekeeping- Modells eventuell zu besserer Qualität oder niedrigeren Kosten führen würde. Eine aktuelle systematische Literaturüber- sicht [Sripa et al., 2019] im British Journal of General Practice ist auf der Basis von 25 analysierten Studien zu dem Ergebnis ge- kommen, dass Gatekeeping-Modelle oft zu niedrigeren Gesundheitsausgaben führen, weil sie unnötige und teure fachärztliche Behandlungen und Krankenhauseinweisun- gen zu vermeiden helfen. Zu ähnlichen Er- gebnissen kam auch schon eine frühere Literaturübersicht [Velasco et al. 2011]. Allerdings stammen die meisten Studien in beiden Reviews aus den USA. Nur sieben der eingeschlossenen Studien in der aktuellen Literaturübersicht kommen aus Europa. Von den europäischen Studien berichteten sechs von niedrigeren Kosten in Gatekee- ping-Modellen, wobei die Ergebnisse nicht immer signifikant sind. Außerdem handelt es sich bei den meisten Studien ausschließ- lich um Beobachtungsstudien, wodurch die Ergebnisse verzerrt sein können. Was ist mit der Qualität der Gesundheitsversorgung? In der bereits erwähnten Literaturübersicht wurden auch die Auswirkungen von Gate- keeping-Modellen auf die Qualität der Ver- sorgung untersucht. Das Ergebnis war, dass Gatekeeping in der Regel mit besserer Qua- lität und angemessenerer Inanspruchnahme von Untersuchungen oder Krankenhaus- einweisungen verbunden ist. Allerdings be- richtete eine Studie von signifikant niedrige- ren Überlebensraten von Krebspatienten in Gatekeeping-Modellen, wobei sich im euro- päischen Vergleich nicht beobachten lässt, dass Überlebensraten für unterschiedliche Krebsarten in Gatekeeping-Ländern tenden- ziell niedriger sind als in nicht-Gatekeeping- Ländern. Die Literaturübersicht berichtete auch von zwei Studien, die eine niedrigere Patientenzufriedenheit in Gatekeeping-Mo- dellen beobachteten. Welche Folgen hat die Einführung eines Primärarztmodells für die Ärzte? Die Auswirkungen auf die Ärzteschaft kön- nen ganz unterschiedlich sein: eine größere Rolle für Hausärzte, insbesondere wenn größere Primärarztpraxen gut ausgestattet ? ? ? ? Patientensteuerung Gatekeeping reduziert nicht automatisch die Kosten Das europäische Ausland macht es vor: Primärarztmodelle erlauben eine straffe Patientensteuerung. PD Dr. Wilm Quentin, MSc HPPF, erklärt, was nötig ist, damit Gatekeeping Kosten reduzieren kann, welche Vergütungs- anpassungen es geben muss und warum einer Patientengruppe besondere Beachtung geschenkt werden sollte. PD Dr. med. Wilm Quentin, MSc HPPF ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fach- gebiet Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität Berlin. Er leitet den Projektbereich „Global Health“ des Fach- gebiets Management im Gesundheitswesen und das International Teaching Programme. Foto: privat 78 Politik
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