Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 110, Nr. 1-2, 16.1.2020, (24) A m 1. Januar 1934 waren im Deutschen Reich insgesamt 11.332 Zahnärzte gemeldet, darunter 1.064 Personen, die von den Nationalsozialisten als Juden klas- sifiziert wurden. Das entscheidende Kriterium dabei war nicht die Religion, sondern die Abstammung, so dass unter den Verfolgten auch Protestan- ten, Katholiken und Menschen ohne Bekenntnis waren. Einige besaßen noch eine Zulassung zur Kassenpraxis. ZWEIFELSFREI VERFOLGTE: jüdische und politisch missliebige Zahnärzte Rund 100 jüdische und jüdischstäm- mige Zahnärzte waren zu diesem Zeit- punkt bereits zwangsemigriert. Hieraus lässt sich schließen, dass der Anteil der jüdischen Behandler an der Zahnärzte- schaft 1933 vor dem Machtwechsel bei immerhin rund 10 Prozent gelegen hatte. 5 Sie sind ohne Zweifel als Verfolgte im Nationalsozialismus zu bezeichnen. Analog zu den Ärzten waren beamtete Zahnärzte – darunter Hochschullehrer, an öffentlichen Häusern tätige Perso- nen und Schulzahnärzte – bereits im April 1933 entlassen worden. Gleich- zeitig entzog man „nicht-arischen“ Zahnärzten die Kassenzulassung. Aus- nahmen gab es nur für wenige Perso- nen, von denen die meisten im Ersten Weltkrieg Kriegsdienst geleistet hatten. Dies bedeutete für viele über Nacht den wirtschaftlichen Ruin, der mit sozialer Ausgrenzung einherging. Am 1. Januar 1938 gab es im gesamten Reichsgebiet nur noch 579 jüdische Zahnärzte, und bis zum 1. Januar 1939 ging ihre Zahl auf 372 zurück, von denen noch 250 eine Kassenzulassung besaßen. Zu diesem Zeitpunkt war die Gesamtzahl der Zahnärzte allerdings auf 15.006 angewachsen; demnach betrug der Anteil der Juden unter den zugelassenen Kassenzahnärzten gerade noch 1,6 Prozent. 5-6 Infolge der „Achten Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 17. Januar 1939 wurde schließlich allen jüdischen Zahnärzten – vier Mo- nate nach den Humanmedizinern – die Approbation entzogen. 7 Nur eine sehr kleine Gruppe erhielt als „Zahn- behandler“ die Erlaubnis, die verbliebene jüdische Gemeinde in Deutschland zu versorgen. Die Arbeitsgruppe um Matthis Krischel konnte zeigen, dass etwa zwei Drittel der verfolgten Zahnärzte aus Deutsch- land fliehen konnten. Die Emigration erfolgte häufig über mehrere Etappen; viele gingen zunächst in die Nachbar- länder Deutschlands und mussten nach Kriegsbeginn erneut von dort flüchten. Die wichtigsten letztendlichen Zielländer waren die USA, Großbritan- nien und das britische Mandatsgebiet Palästina. Nur eine Minderheit konnte nach der Emigration wieder in ihrem Beruf arbeiten. Alternativen waren die Tätigkeit als Zahntechniker oder in un- gelernten Berufen. Wer das Land vor Kriegsbeginn nicht verlassen hatte, war bald von der Deportation in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungs- lager bedroht. Etwa ein Viertel der ver- folgten Zahnärzte erlitt dieses Schick- sal. Nur wenige überlebten die Lager. Einige wählten den selbstbestimmten Suizid, um Schmähung, Misshandlung oder Deportation zu entgehen. Neben der jüdischen Herkunft konnten aber auch andere Gründe dazu führen, dass Zahnärzte ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten gerieten. Einige wurden bereits früh vom Beruf ausge- schlossen und zum Teil auch verhaftet, weil sie politisch als Sozialdemokraten oder Kommunisten in Erscheinung ge- treten waren. Später schlossen sich wenige Zahnärzte dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an. Wer entdeckt wurde, war von Haft und Todesstrafe bedroht. Mehreren Zahn- ärzten wurden wegen ihrer sexuellen Foto: BArch, Bild 146–1984–020–17 PROF. DR. DR. DR. DOMINIK GROß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MIT I, Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Foto: privat zm-SERIE ZUM NS-FORSCHUNGSPROJEKT Zahnärzte als Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“ Dominik Groß, Matthis Krischel Das „Dritte Reich“ gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. Rund 11.000 Zahnärzte waren zum Zeitpunkt von Hitlers Machtübernahme in Deutschland registriert – sie konnten von der weit- reichenden Politik der Nationalsozialisten nicht unberührt bleiben 1–4 . Doch welche politische Rolle kam der Zahnärzteschaft zwischen 1933 und 1945 zu? Wer wurde zum Täter, wer verfolgt? Was sind die Kriterien für eine solche Einteilung und wo stoßen derartige Kategorien an Grenzen? Selektion von neu angekommenen Juden an der „Todesrampe“ in Auschwitz, datiert auf Mai 1944

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=